Henrique Avancini: Ich bin Arbeiter, kein Phänomen

Interview: Ein schmerzhafter Prozess wird zum Genuss

Er ist der erste Brasilianer, der in der Cross-Country-Disziplin auf dem Weltcup-Podium stand. Henrique Avancini ist ein neues Gesicht unter den Besten dieses Sports, obschon er bereits 29 Jahre alt ist. Grund genug, sich dem Short Track-Sieger von Andorra und Gesamt-Weltcup-Vierten anzunähern, nach den Erklärungen für seinen Aufstieg zu fragen und ihm als Person etwas kennen zu lernen. Beim Weltcup in Mont Sainte Anne hat sich acrossthecountry.net mit dem Brasilianischen Meister unterhalten und es ist ein außergewöhnlicher Rennfahrer zu Tage getreten, der sehr viel reflektiert, überraschende und erhellende Einsichten zu bieten hat. ACHTUNG: langer Text! Aber weil Avancini  sehr viel Erhellendes zu sagen, was über seine eigene Person weit hinaus reicht, sollte es sich lohnen. Zwischendrin kommen auch Cannondale Team-Manager Daniel Hespeler und Teamkollege Manuel Fumic zu Wort.

 Zunächst mal ein paar Daten zu Henrique Avancinis bisherigen Karriere-Verlauf vorangestellt: Geboren am 30. März 1989 in Petropolis, in den Bergen 60 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Mit acht Jahren fing er an Mountainbike zu fahren, der Vater hatte einen kleinen Bikeshop eröffnet. 2007 war er bei der Junioren-WM in Fort William 25., ein Jahr später in der U23 im Val di Sole 42., im letzten U23-Jahr in Champery dann wieder 25. In den drei letzten U23-Jahren, von 2009 bis 2011, hatte Avancini schon mal ein dreijähriges europäisches Intermezzo, als er für das italienische Team ISD Cycling unterwegs war.

Er ging zurück nach Brasilien, aber 2013 überraschte er beim Frühjahrs- Bundesligaklassiker in Münsingen alle Favoriten und gewann das Rennen. Damals kümmerte sich der Deutsche Ex-Meister Wolfram Kurschat ein wenig um Avancini und gab nach dessen Sieg zu Protokoll: „Wenn ich sehe, wie der bisher alles organisiert hat, dann ist mir klar, dass da nicht viel dabei raus kommen kann. Ich bin überzeugt, dass der viel besser fahren könnte.“ Warum Kurschat das richtig beobachte, erklärt sich im Interview.

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In den Farben von Caloi: Henrique Avancini gewinnt sensationell den Frühjahrsklassiker in Münsingen vor José Hermida ©Marius Maasewerd/EGO-Promotion


Avancini fuhr dann zwar nach und nach besser, aber bis er „viel besser“ war, dauerte es noch vier Jahre. Ende 2014 unterschrieb er bei Cannondale Factory Racing, 2017 fiel er als Zehnter in Andorra erstmals im Weltcup auf und dann ließ er bei der WM in Cairns als Vierter aufhorchen. Im Frühjahr hatte er gemeinsam mit Manuel Fumic schon drei Cape-Epic-Etappen gewonnen.

2018 gelangen ihm zwei vierte Plätze im Cross-Country, ein Sieg im Short Track, ein zweiter Platz in Mont Sainte Anne und ein Dritter in La Bresse.

 

Henrique, du hast die Weltcup-Saison als Gesamt-Vierter abgeschlossen, deine Ergebniskurve zeigt steil nach oben, damit hätte niemand gerechnet. Welche Erklärung hast du selbst dafür?

Alle wundern sich, wie ich mich so stark entwickeln konnte. Ich habe eigentlich nicht viel verändert, nur meine Einstellung. Dazu, wie ich mit verschiedenen Situationen umgehe. Wenn ich meine physischen Tests von 2013 oder sogar Ende 2012 vergleiche, dann habe ich mich nicht sehr verbessert. Mein Körper hat sich ein wenig verändert, ich habe ein bisschen mehr Gewicht, mehr Muskeln. Aber wenn ich Zeiten vergleiche, die ich für einen Anstieg, den ich mein ganzes Leben schon (zum Vergleich) nutze, dann sind das vielleicht zehn Sekunden in einem 30-Minuten-Anstieg. Das zeigt keine große Verbesserung.

Worin liegt dann die Steigerung?

Mein erster größerer Sieg war beim Bundesliga-Rennen in Münsingen 2013. Es war zum ersten Mal, dass ich mich in Europa gezeigt habe. Es war zum ersten Mal, dass ich die Verfassung hatte, um ein Rennen gegen große Namen zu gewinnen. Ich erinnere mich, dass José Hermida Zweiter war, damals ein Weltkasse-Mann und sehr respektierter Fahrer. Aber von da aus, habe ich noch fünf Jahre gebraucht, um auf einem Weltcup-Podium zu stehen.

Warum hat das so lange gedauert?

Wenn du in kleineren Rennen auf starke Fahrer triffst, musst du dir nicht so viele Gedanken machen. In Münsingen waren damals auch fünf Fahrer aus den Top-Ten der Weltrangliste, aber wenn du alleine im Weltcup ankommst, beginnst du viel mehr nachzudenken. Da sind sie alle, die großen Namen, die Trucks, die Bikes und alles andere. Das sind so viele Informationen für dein Gehirn, auch wenn du das gar nicht realisierst. Die Strecken sind härter, technischer und du siehst viele Leute, die sich einzelne Linien anschauen. Vielleicht ist das gar nicht so anspruchsvoll, aber dann siehst du Nino da stehen, siehst Absalon da stehen, wie sie sich Passagen anschauen. Und dann denkst, oh, dass muss ein Problem sein. Solche Dinge beeinflussen.

Weißt du, eine gute Form zu haben ist eines. Im Rennen eine gute Form abzuliefern, was anderes. Dafür musst du mental wirklich gut aufgestellt sein (have good mindset). Ich komme aus einem anderen Land, einer anderen Kultur. Dadurch habe ich ein wenig länger gebraucht, um alles zu verstehen und alle Einzelteile zusammen zu fügen.

Was macht den Unterschied zwischen den Kulturen aus?

Erstens wie wir uns selbst sehen, vor allem in der Sport-Szene. Traditionell reden wir vor allem über unseren Mangel an (guten) Bedingungen. Das hat mich immer geärgert. Wenn ein brasilianischer Athlet nach Europa kommt, wenn er die Trainings-Zentren sieht, wenn er die Strukturen erkennt, die ein Europäer hat, wird sich der Brasilianer sofort weiter unten einordnen. Für mich war eine der ersten Erkenntnisse, dass ich die Bedingungen nicht habe, aber dass ich sie aufbauen kann. Deshalb habe ich meine weniger guten Resultate nie auf die schlechteren Bedingungen geschoben.

CROSS VIEW Daniel Hespeler: Durch unseren Austausch mit unseren brasilianischen Partner wissen wir, dass Sport-Stars dort Helden sind. Für die ist das, was Henrique gerade macht, vergleichbar mit Ayrton Senna (Formel-Eins-Legende †). Insofern als er den Leuten zeigt, dass es möglich ist auf der Weltbühne mitzuspielen und, das gehört dazu, dass er ihnen Unterhaltung bietet. Deshalb sind die Zuschauer-Zahlen dort auch wie sie sind. (Anm.:Seit diesem Jahr gibt es die RedBull-Livestream auch mit Portugiesischem Kommentar)

Wann bist du zu dieser Einsicht gekommen?

Von 2009 bis 2011 war ich schon mal in Europa, einem kleinen Team in Italien, ISD Cycling Team. Während dieser Zeit habe ich viel verstanden. Ich habe gemerkt, es ist nicht so einfach. Als ich jung war, dachte ich, dass ich nur nach Europa kommen müsste und dann wäre alles ganz einfach. Aber als ich dort war, erkannte ich, dass ich noch viel zu lernen habe, dass ich mich meine Karriere weiter entwickeln, dass ich meinen Körper weiter aufbauen muss.

Am Ende hat mir Andrea Marconi (Team-Manager) gesagt: Vielleicht hast nicht das, was man braucht um ein Top-Fahrer zu werden. Du hast eigentlich nicht mal das, was es braucht, um in Europa zu fahren. Vielleicht solltest nach Brasilien zurückgehen und dort Rennen fahren.

Er war nicht von Dir überzeugt?

Ich meine, das erste Mal, als er mich sah, da schon. Er hat zwei Jahre mit mir gearbeitet und dann gemeint, vielleicht kannst du in ein, zwei Rennen schnell fahren, aber um ein Top-Fahrer zu sein, das ist was anderes. Ich habe viel darüber nachgedacht und kam zum Schluss: okay, er hat auf eine Art Recht, vielleicht habe ich nicht das Talent, wie diese Jungs.

An was machst du das fest?

Als ich mich mit den besten U23-Fahrern gemessen habe, musste ich erkennen, fuck, ich bin nicht einer dieser top Jungs. Aber ich wollte immer noch da hin. Das war der erste Moment, in dem ich mir vorgenommen habe: ich mache nicht dasselbe, nein, ich mache viel mehr als all die anderen. Dann habe ich damit begonnen, sehr stark an meinen Fähigkeiten zu arbeiten, härter zu trainieren.

Ich sagte mir, okay, vergiss das Talent, du hast es nicht. Ich werde mir aber die Zeit nehmen, um die Fähigkeit aufzubauen, mehr als alle anderen Fahrer zu trainieren. So dass ich an der Startlinie sagen konnte: niemand hat mehr trainiert als ich, niemand hat diesen Aufwand betrieben. Sicher ist es sehr viel härter, um da hin zu kommen, aber wenn ich den gleichen Speed habe, dann kann ich sie schlagen, weil mein Weg dahin viel härter war.

 

CROSS VIEW Manuel Fumic sagt über seinen Cape-Epic-Partner: „Henrique ist ein sehr fröhlicher, lustiger Mensch, aber verlangt sehr viel von sich. Wenn er sein Ziel verfehlt, dann stellt er sich in eine Ecke, ist sehr kritisch mit sich selbst. Man musste ihn immer auch zügeln, weil er zum Teil zu viel gemacht hat.“

 

Henrique, das ist ein komplizierter Weg, so viel zu trainieren. Hat dich da jemand beraten? Da kann man schnell zu viel machen, man hat Tiefen..

…(lacht)..ich hatte einige Tiefen. Um ehrlich zu sein, ich habe zuerst niemanden gefunden, der an mich geglaubt hat. Ich war der, den Leuten gesagt hat: das ist möglich. Ich habe dann begonnen nach Leuten zu suchen, die meine Vision geteilt haben. Lasst uns diesen Weg gehen, vielleicht ist er hardcore, vielleicht klappt es, vielleicht nicht. Aber wir werden hart dafür arbeiten, es wird hart, sehr hart.

Fünf Jahre lang war mein einziges Anliegen, dass ich mehr arbeite als alle anderen. Und das hat zur Folge gehabt, dass ich (physisch) eine richtige Maschine werden konnte. Ich konnte leiden und wirklich viel Kraft entwickeln. Aber es ging noch darum, diese Kraft auch im Rennen umsetzen zu können.

Wie hast du das geschafft?

Der letzte Schritt war dann, dass ich 2016 begonnen habe mit der Sportpsychologin Alessandra Dutra zu arbeiten und auch mit Phil Dixon (Cannondale Performance-Manager). Diese beiden Personen haben mir zum letzten Schritt verholfen. Ale war diejenige, die mir gezeigt hat, wie ich die mentale Stärke, die ich im Training aufgebaut habe, auf andere Weise nutzen kann. Sie hat mir einen Trainingsplan aufgestellt, um mir neue Werkzeuge zu erschließen. Zum Beispiel, um auf dem Kurs mehr Informationen aufzusaugen oder in eine technische Passage rein zu fahren und immer noch sehr effizient zu atmen. Ich habe begonnen an diesen mentalen Dingen zu arbeiten.

 

CROSS VIEW Daniel Hespeler: Henrique kam von Brasilien nach Europa und konnte da nicht mithalten. Also hat er, seiner Philosophie folgend, halt noch härter gearbeitet. Aber so funktioniert es halt nicht im Leistungssport. Wenn du härter trainierst, brauchst du auch mehr Zeit zum Erholen. Mit dem ganzen Hin- und Her-Reisen hat sich das natürlich nicht verbessert und es war ein Dilemma, so dass er sich in einer Abwärtsspirale bewegt hat. Phil und ich haben das 2016 analysiert und versucht ihn da wieder rauszukriegen. 2017 sollte er mehr Zeit für sich in Brasilien bekommen und den Focus mehr auf Cape Epic, Marathon-WM und so was legen. Er hat verstanden, dass, nicht zwangsläufig mehr rauskommt, wenn er mehr macht. Danach hat die Entwicklung begonnen.

 

CROSS VIEW Manuel Fumic: „Ein Schlüsselmoment war vielleicht die Marathon-WM. In vergangenen Jahr war nicht so sicher, wo Henrique landen wird. Er sollte sich mehr auf Marathon konzentrieren und dann ging die WM in Singen nicht gut. Henrique war ziemlich niedergeschlagen, weil er glaubte in der Form seines Lebens zu sein, es ging auch schon um Vertragsverlängerung und so. Ich habe ihm gesagt, er soll den Kopf nicht hängen lassen und ganz entspannt an folgenden Weltcup in Andorra herangehen. Da ist er dann sein erstes Top-Ten-Ergebnis gefahren und hat gemerkt, dass er es kann.“

 

Hatte die Arbeit mit der Sportpsychologin einen erlebbaren Effekt?

Das hat mich auf den nächsten Level gehoben. Ich hatte einen starken Körper, aber jetzt konnte ich ihn auch nutzen. Das letzte Puzzlestück war die Arbeit mit Phil Dixon. Er war derjenige, der mir geholfen hat, weiter an meiner körperlichen Verfassung zu arbeiten, aber auch mich zu erholen, körperlich und mental. Er kennt das Timing, das mir hilft frisch an der Startlinie zu stehen und abliefern zu können.

Es geht um kleine Dinge. Zum Beispiel, was ich trainiere vor einer Reise, was ich danach mache oder auch vor den Rennen. Auf dem Papier sind’s nur scheinbar unwichtige Dinge, aber der Unterschied ist enorm. Das zeigt mir, wie komplex unser Sport ist.

Du kannst ein super starker Fahrer sein, du kannst technisch großartig sein, du kannst mental sehr ausgeglichen sein. Aber, so lange du nicht alles zusammenfügst, wirst du keiner der top Athlet sein. Du kannst ein, zwei Mal vorne dabei sein, aber du bist kein konstanter Fahrer.

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Henrique Avancini mit Cannondale Performance-Manager Phil Dixon©Michele Mondini

Inzwischen hast du viele Puzzleteile zusammen gefügt.

Ja, der Moment, in dem ich grade lebe, ist für mich großartig. Es ist ein neuer Grad von Genuss. Ich bin durch den schmerzhaften Teil des Prozesses gegangen, mit Verletzungen, mit Übertraining und all diese Sachen und jetzt kann ich alle Erfahrungen zusammenfügen. Das fühlt sich einfach großartig an. Das Resultat selbst ist zweitrangig für mich. Ich nehme immer noch Unterricht, schaue mir an, wo sie (die Konkurrenten) Schwächen, wo sie Stärken haben und was ich machen muss, um sie zu schlagen. Es ist soo schön (grinst genießerisch).

 CROSS VIEW Manuel Fumic: „Ihm fehlt manchmal noch das Auge, um einzuschätzen, wo er investieren muss und wo er rausnehmen muss. Aber er lernt von Rennen zu Rennen dazu und aus diesem Jahr wird er noch mehr mitnehmen, weil er von den Besten gelernt hat.“

Du sagst, die Werte sind über mehrere Jahre hinweg die gleichen geblieben. In diesem Prozess, in dem du mehr und mehr trainiert hast, was hat sich da dann tatsächlich entwickelt?

Die Werte sind in kleinen Schritten besser geworden. Erst habe ich einen starken Körper aufgebaut, dann ging es um eine Art Schärfung der Kraft. Was heißt Schärfung? Nun, die Kraft zu haben ist eines, aber einen schnellen Körper zu haben, das ist was anderes. Vielleicht kannst du 100 Kilo heben, aber 100 Kilo schneller zu heben, das ist eine ganz andere Sache.

Ich habe versucht mich auch technisch zu verbessern und ich bin auch schneller geworden. Aber das Problem war die Energie, die ich dafür aufgewandt habe. Die technischen Passagen stehen sehr stark in Verbindung mit dem mentalen Bereich. Wenn du Nino anschaust, zum Beispiel. Er ist wirklich ein guter Techniker, aber nicht der beste. Doch du siehst bei ihm nicht viele Fehler, er ist sehr stabil während eines Rennens.

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Pulsschlag muss runter: Henrique Avancini in „La Beatrice“ in Mont Sainte Anne vor Anton Cooper ©Michele Mondini

Er ist sehr effizient, in dem was er tut, er verbraucht nicht zu viel Energie. Natürlich musst du schnell sein, aber letztlich ist es nicht Downhill. Nach der Abfahrt kommt wieder ein Anstieg. Wieder und wieder.

Du musst in einer technischen Passage wie „La Beatrice“ in Mont Sainte Anne oder wo auch immer in der Lage sein, deinen Puls nach unten zu bringen. Wenn du oben ankommst mit 180, dann solltest du unten 175, 176 haben. Aber es ist verdammt technisch…

Der Unterschied zwischen den Mittelfeld-Leuten und den Top-Leuten ist, dass die da zu viel Energie verschwenden, dass sie zu angespannt sind. Das war auch mein Problem. Ich war schon 2013 ein, zwei Runden unter den Top-Fahrern, aber ich habe in den technischen Passagen so viel Energie verbraucht, dass ich irgendwann die Rechnung dafür bezahlen musste.

Du scheinst eine Person zu sein, die gerne ins Detail geht, sich viele Gedanken über den Sport macht, fast schon philosophisch.

Ja, das tu’ ich, ja. Wenn ich ehrlich bin und auf mein Leben zurückschaue, dann hat es eine Weile gedauert bis ich gemerkt habe, dass sich mein Leben komplett verändert hat. Ich war von Haus aus nie gut in irgendwas. Weder in der Schule, noch im Sport, nirgends. Als ich zum ersten Mal gegen einen Ball getreten habe, zum ersten Mal etwas lesen musste, aber ich war in der Lage, mich überall zu verbessern. Ich war nie ein Top-Fahrer, aber heute bin ich Zweiter in der Weltrangliste, Vierter im Weltcup.

Das zeigt nicht, dass ich ein Phänomen bin. Es zeigt nur, dass man sich selber entwickeln kann. Ich war kein top Junior, kein top U23-Fahrer, aber ich habe gearbeitet, immer versucht mich zu verbessern. Mir selber die Fragen gestellt. Es ist egal, wie ich bin, aber es spielt eine Rolle, wo ich mich verbessern kann. Auf einmal kämpfe ich gegen die Top-Fahrer. Ich habe das noch nicht mal kommen sehen. Ich habe nur an diesen einzelnen Teilen gearbeitet, mich besser zu erholen, technisch besser zu werden, eine ausgeglichene Person zu werden und so weiter. Und auf einmal war ich da. Das Leben folgt dem einfach (lacht).

 

CROSS VIEW Daniel Hespeler: „Ich habe bisher noch keinen Fahrer erlebt, der sich so mit sich selbst und dem, was er tut auseinandersetzt. Damit steht er sich selbst manchmal ein bisschen im Weg, weil er vielleicht zu sehr in die Tiefe denkt, um zu einem Ergebnis zu kommen. Im Rennen hast du nicht die Zeit dafür.“

 

Henrique, diese Haltung, dieses Herangehen, woher hast du das? Gibt es jemand, der dich da beeinflusst hat?

Ich sehe das Leben als eine Möglichkeit, die mir Gott gegeben hat. Letzten Endes sind wir nicht hier für eine lange Zeit, aber wir sollten hier sein für eine gute Zeit (we are not here for a really long time, but we should be here for a good time). Eine gute Zeit heißt, du solltest deine Zeit nutzen, um eine bessere Person zu werden. Da spreche ich nicht nur für die sportliche Seite.

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Brasilianischer Triumph: Short Track-Weltcupsieg in Andorra. ©Michele Mondini

Als Mensch versuche ich immer wieder inne zu halten und mich selbst zu analysieren. Was mache ich gut, was mache ich falsch, wo kann ich mich verbessern, wie könnte ich die Fehler vermeiden? Wenn du das Leben auf diese Weise betrachtest, dann siehst du sie (die Fehler) nicht als Schwäche, sondern als Lektion. Ich hatte wirklich harte Zeiten, ich machte Fehler, aber daraus gibt es immer etwas zu lernen. Okay, ich habe mich verletzt, in Ordnung, ich versuche das zu vermeiden.

Wenn du dich öffnest, um das Leben auf diese Weise zu sehen – ich weiß nicht, ob es besser ist, als anderes oder nicht – ,dann kannst du es viel mehr genießen. Ich sage mir nie, ich bin nicht gut im Technischen, ich bin nicht gut in steilen Anstiegen und so weiter, ich sage nie, ich bin nicht gut in irgendwas in meinem Leben oder werde nie gut in dem. Ich habe ein Level und ich kann dieses Level verbessern. So ist das nun schon eine Weile.

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Erstes Podium in Val di Sole ©Michele Mondini

Ich bin 29 Jahre alt und beginne erst den Prozess ein wenig mehr zu genießen. Es hört sich einfach an, aber ich will nicht sagen, es war ein Wunderland seit ich ein Junior war. Ich hatte schwierige Zeiten und habe mir mehrfach überlegt aufzuhören, ich habe über meine Ziele nachgedacht. Aber ich habe immer was probiert, immer versucht das beste aus mir heraus zu holen.

Die Frage war immer: habe ich das Maximum heraus geholt oder habe ich immer noch Potenzial zur Verbesserung? Ich denke, das Level an dem ich heute bin, das widerspricht allen Prognosen. Niemand hätte gedacht, dass Avancini um Weltcupsiege kämpft. Es ist jetzt ein anderer Punkt in meiner Karriere, ich bin mit anderen Dingen konfrontiert. Vielleicht ist es härter als zuvor.

 

CROSS VIEW Daniel Hespeler: „Er ist ein solider, getriebener, ehrlicher Athlet, dem sehr viel daran liegt, den Sport und das, an was er glaubt, in eine bessere Richtung zu bringen. Und sich dabei oft selber auch hinten anstellt.“

 

Was an diesem anderen Punkt deiner Karriere ist härter?

Die Europäer realisieren vermutlich nicht, was es heißt, wenn ein südamerikanischer Sportler auf gleichem Niveau unterwegs ist. Das wird von den Europäern nicht wirklich akzeptiert. Das ist normal, wenn man den historischen Aspekt betrachtet. Wir wurden von den Europäern dominiert, sie brachten ihre Kultur zu uns, sie haben unser Land benutzt, um ihres zu entwickeln. Es war immer eine Position der Überlegenheit.

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Als Brasilianer im Weltcup: Akzeptiert, aber nicht respektiert. Vielleicht noch nicht. ©Michele Mondini

 

Außer im Fußball, oder?

Ich meine, akzeptiert zu sein, heißt noch nicht respektiert zu sein. Wenn du das brasilianische Fußball-Team anschaust, die Menschen akzeptieren, dass sie wirklich gut sind, aber sie respektieren nicht, dass sie wirklich gut sind. Und das ist ein Thema für uns (Brasilien), weil wir das auch akzeptieren. Es ist schwer diese Mentalität zu durchbrechen..

…deine eigene Mentalität..

Ja, meine eigene Mentalität. Ich helfe ihnen (den Europäern) ja dabei, dass sie mich so sehen können, wie sie mich sehen. Die Art wie ich mich verhalte, hilft ihnen das Bild von einem Latein-Amerikaner aufrecht zu erhalten. Ich bin jetzt seit einiger Zeit dabei, für einige Jahre war ich schnell, aber ich war kein Top-Fahrer.

Jetzt zeige ich Konstanz und ich zeige eine bestimmte Haltung. Manchmal gehe ich an die Spitze des Rennens, nicht weil ich dumm bin, sondern um zu zeigen, dass ich da vorne fahren kann. Ihr könnt an meinem Hinterrad fahren, ich bin stark genug, ich habe die Fähigkeiten. Sie akzeptieren das, aber bis zum Respekt ist es noch ein langer Weg, ein anderer Prozess. Es beginnt an ihrer Ehre zu kratzen. Aber ich verstehe auch warum.

Und zwar?

Wenn du zum Beispiel die Schweizer nimmst. Du hast die Nino-Generation, davor hattest du die Sauser-Generation, davor die Frischi-Generation (Christoph Sauser als Weltmeister und Weltcupsieger, Thomas Frischknecht als Weltmeister und Weltcupsieger). Du hast drei Generationen von Weltmeistern. Drumherum bilden sich gute Trainer, gute Physiotherapeuten, gute Mechaniker, ein gutes Nationalteam. Als Nino auftauchte, hatte er schon das gute Umfeld. Ich musste das selbst aufbauen, aus dem Nichts. Erst mal in einem ganz anderen Land, da gab es keine Zukunft. Als ich die Lücke zu den Schweizern, den Franzosen schließen konnte, da habe ich nicht nur die Lücke von einer Generation geschlossen, sondern von dreien. Es ist viel komplexer.

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Henrique Avancini mit Weltmeister Nino Schurter ©Michele Mondini

Um in ein Top-Team zu kommen, das war für mich eine lange Reise. Als ich es geschafft hatte, war es noch mal hart zu verstehen, wie die Dinge laufen, was ich machen musste um besser zu werden. Wie wir zusammen arbeiten, wie ich für das Team wertvoll sein könnte und wir glücklich miteinander werden können. Und da sehe ich mich im Moment.

Und wenn du zu deinen Anfängen zurückblickst, ist das kaum zu glauben.

Ja, genau. Die meisten Europäer fahren meistens vielleicht 500 Kilometer zu einem Rennen. Als ich jung war musste ich persönliche Dinge verkaufen, um ein Flugticket zu erwerben. Ich kam mit einem Jetlag an, musste einen Platz zum Schlafen finden, jemanden suchen, der mir im Rennen Flaschen reicht. Diese Sachen waren alle viel schwieriger für mich. Nur um an der Startlinie zu sein. Zum Beispiel hatte ich nie Unterstützung mit Material, ich habe eine Saison mit zwei Sätzen Reifen bestritten.

Ich erinnere mich an meine erste WM 2006 (in Neuseeland). Als das französische Team weg war, bin ich an deren Abfalleimer gegangen und habe die Ketten mitgenommen, die sie weg geworfen haben. Die ganz nächste Saison bin ich mit diesen Ketten gefahren. Sie waren immer noch gut genug für mich.

Das Positive ist, ich habe mich für diese Dinge nie selber gering geschätzt. Vielleicht habe ich das von meinen Eltern. Während meiner Kindheit, hatten wir einige schwierige Phase. Wir haben auf dem Land gelebt, wir hatten teilweise keine guten Umstände. Mein Vater und vor allem meine Mutter, haben darauf geachtet, dass ich mich selber nie als armen Menschen wahrgenommen habe. Egal ob ich nur einen Satz Kleidung hatte, sie haben nie zugelassen, dass ich mich selbst als gering erachte.

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Vorne fahren: Zeigen, dass man es kann ©Michele Mondini

Hast Du Geschwister?

Eine Schwester.

Die keinen Sport treibt?

Sie ist meine Physiotherapeutin. Sie ist eine Bio-Mechanik-Ingenieurin.

Und dein Vater hat einen Bikeshop?

Ja, hat er immer noch.

Aber er hatte ihn nicht als du jung warst?

Doch, er hat ihn eröffnet als ich sieben Jahre alt war. Es war nur ein sehr kleiner Shop. Aber ich war immer dort.

Das war praktisch der Anfangspunkt deiner Karriere als Biker?

So ziemlich, ja. Er ist immer noch ziemlich involviert in meine Karriere. Er war mein wichtigster Förderer.

Welche Rolle spielt das Team Cannondale Factory Racing und darin auch Manuel Fumic für dich und deine Entwicklung?

Ich würde sagen Mani ist einer der wichtigsten Personen in meiner Karriere, weil er so ein positiver Typ und er hat immer freundliche Worte für mich gehabt, in schwierigen Zeiten. Wir haben immer harte Zeiten zu durchleben, mit Verletzungen, Stürzen, schlechte Resultaten. Er ist ein Mensch, der mich immer sehr unterstützt hat, der Dinge mit mir geteilt hat, übers Leben, über den Wettkampf.

„Mani ist einer der wichtigsten Personen

in meiner Karriere“

Ich bin wirklich dankbar, dass ich ihn als Team-Kollegen habe. Ich glaube, er ist eine einzigartige Person. Es ist wirklich schwer, jemanden zu finden, der so positiv ist. Wenn ich ihn um mich habe, sind die Schwingungen (Vibes) immer besser. Ich denke, er ist auch allgemein ein toller Typ unseren Sport. Ich sehe ihn wie einen großen Bruder. Er bringt mich zum Lachen, wenn ich traurig bin, er korrigiert mich, wenn ich was falsch mache, er gibt mir Rat, wenn mir eine Herausforderung bevorsteht.

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Riesenfreude über Avancinis Short Track-Weltcupsieg in Andorrra – mit Manuel Fumic ©Michele Mondini

Zum Team: was wir haben ist schwer aufzubauen. Und noch schwerer das zu erhalten, so einen Team-Geist. Wir sind alle sehr verschieden, aber wir sind sehr offen, uns auszutauschen über Dinge, es fühlt sich an wie eine Familie. Wir haben unsere Auseinandersetzungen, wir haben so viel schöne Momente, die gar nichts mit dem Sport zu tun haben. Wir haben unseren Job, den wir sehr ernst nehmen. Wir teilen miteinander und wir unterstützen uns, auch in persönlichen Dingen.

Wenn du nur gute Resultate liefern willst, wegen deinem Sponsor, der deine Rechnungen bezahlt, natürlich dann fühlst dich glücklich. Aber wenn du Glück mit Leuten teilst, mit denen du arbeitest, das ist das beste. Ich feiere ein gutes Resultat mit dieser Familie und dann gehe ich nach Hause und feiere es mit meiner eigenen Familie. Wenn ich reise, weiß ich, dass ich auf wirklich nette Leute treffe, das fühlt sich sehr gut an. Das könnte der wichtigste Grund sein, warum wir so erfolgreich sind.

Du bist seit 2015 im Team Cannondale, aber du hättest schon früher dabei sein können. Damals hast du aber von dir aus abgewunken.

Das war 2014. Ich hatte die Möglichkeit zu CFR zu gehen. Das war wirklich eine große Sache, es war mein Traum für dieses Team zu fahren. Aber ich wollte an diesem Punkt nicht zu sehr forcieren. Ich sah mich da noch nicht bereit, um diesen Schritt zu gehen.

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Weltcup-Gesamtsieger mit dem Cannondale-Team. Ganz rechts: Daniel Hespeler ©Michele Mondini

Ich weiß, heutzutage wollen die Youngster immer mehr und mehr. Aber ich glaube, eine Karriere ist eine Reise und ich muss mir anschauen, wo ich in fünf Jahren sein will. Du musst wissen, wo du hin willst. Ich bin so eine Person. Wenn ich nicht mehr sehe, wo ich hin soll, dann verlasse ich den Sport und mache was anderes. Ich werde nicht Dinge x-mal wiederholen und dabei stehen bleiben. Wie gesagt, 2014 war für mich noch nicht die Zeit, im gleichen Raum mit (Marco) Fontana oder Fumic, große Namen.

Ich denke, man muss den Prozess respektieren. Es war wirklich hart, nein zu sagen. Es war mein Dream-Team, den größten Teil meines Lebens. Mein zweites Bike war ein Cannondale. Den ersten Support, den ich bekam, war vom Cannondale-Distributeur, es war also was ganz Besonderes für mich.

Als du dann wirklich zum Team gestoßen bist. Wie war es dann mit diesen Charakteren wie Fontana und Fumic, mit Anton Cooper?

Das war wirklich hart. Wir waren vier Fahrer, zwei große Stars und ein großes Talent mit Anton Cooper. Und dann kommt ein Brasilianer. Ich hatte ein paar gute Resultate in kleinen Rennen, aber im Weltcup war mein bestes Resultat Top 25.

Um ehrlich zu sein, es war wirklich sehr schwierig für mich. Cannondale ist für mich das beste Team der Welt und sie haben ein System und du musst dich anpassen. Einen festen Zeitplan zu haben, Essenszeiten, Briefings. Ich konnte nicht mehr zehn Minuten vorher oder zehn Minuten später parat sein, da gab es eine Zeit, an der ich da zu sein hatte. Der Prozess war viel komplizierter für mich, mit kleinen Dingen. Aber diese kleinen Dinge können dich auf ein anderes Niveau heben oder sie zerbrechen dich. Erst mal war es das zweite.

Ich hatte einen sehr guten Start in die Saison, ich war Zweiter im Cyprus Sunshine Cup hinter (Florian) Vogel, der geflogen ist. Ich bin dann nach Hause, habe die Panamerikanischen Meisterschaften gewonnen und habe wirklich gut trainiert.

 

       „Fraktur? Kann mich nicht stoppen!

Ich hab’ den Gips aufgeschnitten

und bin 180 Kilometer gefahren“

 

Aber dann hatte ich eine ganz kleine Fraktur in meinem linken Fuß, zwei Wochen vor dem ersten Weltcup. Ich hatte einen Gips und ich sollte einige Wochen damit zuhause bleiben. Es hat mich so genervt, dass ich die Weltcups verpasse. Da habe ich den Gips aufgeschnitten und am nächsten Tag bin ich 180 Kilometer gefahren, allein, mit ziemlichen Schmerzen. Ich sagte mir: nein, das wird mich nicht stoppen. Was passiert ist: es hat mich nicht gestoppt, aber hat mich auch nicht schneller gemacht.

Den größten Teil der Saison hatte ich mit den Schmerzen zu tun, mit dem Stress, ob ich gut genug bin und mit meiner Form. Es war wie ein Schneeball, der weiter rollt. Ich war am Ende so ausgebrannt, so dass ich vor der WM in Andorra fünf Tage Pause gemacht habe, einen kleinen Trainingsblock und konnte als 26. noch ein gutes Resultat abliefern. Es war mein bestes Saisonresultat bei großen Rennen. Das war eine große Lektion für mich. Wenn jetzt etwas passiert, werde ich mir Zeit nehmen, auch wenn es ein Tag vor den Olympischen Spielen ist.

An dieser Stelle endete das Interview, fast abrupt. Es wären da noch Fragen gewesen, aber der nächste Termin wartete und 45 Minuten waren offenbar nicht genug. Vermutlich wird es aber nicht das letzte Gespräch mit Henrique Avancini gewesen sein.

 

 

 

 

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