Tokyo2020: MTB-Gold für Pidcock (GBR) (ausführlicher Bericht)

Silber geht an den Schweizer Mathias Flückiger, Bronze überraschend an David Valero aus Spanien

„Das Rennen war der Hammer. Ich habe selten so was gesehen, wie das abging!“ Bundestrainer Peter Schaupp war auch eine Stunde nach dem Mountainbike-Rennen von Tokyo2020 noch beeindruckt von der Performance der weltbesten Mountainbiker beeindruckt.

Pidcock siegt souverän
Die drei letzten der insgesamt sieben Runden auf dem Mountainbike-Kurs auf der Halbinsel Izu war es eine One-Man-Show des U23-Weltmeisters Tom Pidock aus Großbritannien. Nachdem er lange Zeit in einer Vierergruppe mit Nino Schurter, Mathias Flückiger und dem Neuseeländer Anton Cooper das Rennen dominiert hatte, machte er zu Beginn der vierten Runde ernst und erhöhte das Tempo deutlich, nachdem die vier eingangs der Zielgeraden fast einen Stehversuch unternommen hatten und so die längst abgehängten Ondrej Cink (CZE) und Victor Koretzky (FRA) wieder herankommen konnten. Zunächst leistete sich Schurter einen kleinen Ausrutscher, den er aber akrobatisch geschickt abfangen konnte, doch dann stürzte Flückiger, von den Fernsehkameras nicht eingefangen, und riss eine kleine Lücke: Während Schurter sich am Hinterrad von Pidcock festbeißen konnte, verloren Flückiger und Cooper ein paar Sekunden. „Ich wusste, wenn ich Pidcock jetzt fahren lasse, dann ist er weg!“, sagte Flückiger später im Ziel. Also eilte der Schweizer mit aller Kraft dem Führungsduo hinter, „komplett am Anschlag“. „Aber ein Rennen, gerade hier in Izu, ist nicht nur eine Frage der Leistung, sondern auch der Konzentration. Das ist das, was die Strecke hier schwierig macht.“ Flückiger machte sich also auf die Aufholjagd, zog an Schurter vorbei und distanzierte ihn und war dann auch schon fast wieder an Pidcock dran. Doch in einem der staubigen Anstiege verlor Flückiger kurz die Traktion und musste vom Rad. Die Lücke zu Pidcock war endgültig gerissen- und Flückiger konnte sie bis ins Ziel nicht mehr schließen. Pidcock kontrollierte das Rennen von vorne, ließ sich die Führung nicht mehr nehmen und baute den Vorsprung sukzessive aus, zunächst auf sechs Sekunden, dann zwanzig Sekunden. Und so blieb dem erst 21-jährigen Briten genug Zeit, sich auf den letzten Metern einen Union Jack zu schnappen und mit der wehenden Fahne über die doch einigen Zuschauern gesäumte Ziellinie zu rollen.

Kampf um Platz 3 – Holz für Schurter
Während Flückiger hinter ihm souverän die Silbermedaille gewann, entspann sich dahinter ein dramatischer Kampf um Bronze: Als Pidcock anfangs der vierten Runde angetreten war, hatte der Spanier David Valero Serrano noch 38 Sekunden Rückstand auf die Führungsgruppe. Doch danach hatte er sich klammheimlich vorgearbeitet und sich zunächst in die Verfolgergruppe integriert, die zu diesem Zeitpunkt aus Schurter, Cooper und Koretzky bestand. Doch dann attackierte Valero und nur Schurter konnte sein Tempo mitgehen. Valero hatte zwar schon einen kleinen Vorsprung herausfahren können, als auch er in einer Serpentine bergauf kurz vom Rad musste und so Schurter die Möglichkeit eröffnete, wieder aufzuschließen. Doch in der letzten Runde fehlte Schurter die Kraft, an dem bärenstarken Valero dranzubleiben: mit acht Sekunden Vorsprung auf Schurter holte Valero Bronze für Spanien. Für Schurter, der sich in seinen bisherigen vier Olympia-Teilnahmen einen vollständigen Medaillensatz sichern konnte (2008 Peking Bronze, 2012 London Silber und 2016 Rio Gold) kann seiner Sammlung nun die ungeliebte Holzmedaille hinzufügen: „Ich habe alles gegeben“, so der 35-jährige Schweizer nach dem Rennen: „Ich muss mir keine Vorwürfe machen: es waren gute Bedingungen für mich, ich das das beste Team um mich herum. Aber es waren harte Bedingungen, und auf so einer Strecke passiert mal ein Fehler.“ Doch eines dürfte den Bündner wurmen: Sein größter Konkurrent während der längsten Zeit seiner Karriere, der Franzose Julien Absalon hat zwei olympische Goldmedaillen zuhause hängen. Und deswegen will Schurter von Aufhören nichts wissen: „In drei Jahren sind die Olympischen Spiele in Paris!“, warf er schon mal seinen Helm in den Ring.

Vermutlich wird er da auch wieder auf seinen Landsmann Flückiger treffen, der wohl mit einem weinenden und einem lachenden Auge auf seine Silbermedaille blickt: „Ich kann stolz auf Silber sein“, sagte der 31-Jährige im Ziel. „Aber ich bin mit der Erwartung ins Rennen gestartet, hier zu gewinnen. Deswegen kann ich nicht ganz glücklich sein“, bilanziert der aktuelle Weltranglisten- und Weltcup-Führende.

Brandl: Rang 21
Eine ähnliche Gefühlslage dürfte auch der Deutsche Max Brandl haben: der junge Wombacher, der in Freiburg studiert, war aus der zweiten Startreihe ins Rennen gegangen und konnte diese Platzierung auch halten: nach der Startloop („solide“) war Brandl 17. und konnte sich danach sogar bis auf den 14. Platz vorarbeiten. In den ersten drei Runden war er denn auch in den Top20 zu finden, doch in einem langen Anstieg gelangte er in loses Gestein, verlor wie Flückiger die Traktion und musste absteigen. „Es war nur ein kleiner Fehler, aber ich habe schnell vier Plätze verloren, weil gleich hinter mir eine Gruppe kam.“ Der Kurs sähe zwar von außen autobahnmäßig aus, tatsächlich gäbe es aber trotz der verschiedenen möglichen Linien kaum Chancen zum Überholen: „Da kann es sein, dass man fast eine halbe Runde hinter jemand hängt, ohne vorbeizukommen.“ Mathieu van der Poel mag das anders gesehen haben, doch dazu weiter unten mehr. Auf jeden Fall „spielten Gerhard Kerschbaumer und ich in der Folge Katz und Maus: mal war er vorne, mal ich.“ Doch die Ziellinie überquerte der Italiener als erster von beiden, und auch wenn Brandl auf der Zielgeraden nochmal attackierte, es blieb „nur“ der 21. Platz bei seinen ersten Olympischen Spielen für den Franken, 4:35 Minuten hinter dem Sieger Tom Pidcock. „Max hat in diesen Tagen viel gelernt“, zeigte sich denn Bundestrainer Peter Schaupp mit Blick auf Paris 2024 durchaus zufrieden, „auch wenn ich ihm ein besseres Ergebnis gewünscht hätte. Für Manuel war heute das Tempo einfach zu hoch.“

Fumic: Abschied von Olympia
Der Schwabe Manuel Fumic belegte in Tokio bei seinen fünften und letzten Olympischen Spielen gerade einmal den 28. Platz: „Ich hatte mir mehr vorgenommen“, sagte er nach dem Rennen, irgendwie enttäuscht und gleichzeitig Fumic-typisch gut gelaunt: „Es gibt Tage, da wünscht man sich ganz arg, die vorhandene Form auch abrufen zu können. Aber das war heute nicht der Tag des Manuel Fumic.“ Dabei war er vom Start noch einigermaßen gut weggekommen, aber schon am ersten Berg musste er im Stau vom Rad wieder runter. Es begann ein Jojo-Spiel: immer wieder musste er runter vom Rad, erst „in der dritten Runde konnte ich meinen Rhythmus fahren. Aber ich konnte die Leistung nicht abrufen: es war schwer zu überholen, es war kräftezehrend und war wahnsinnig heiß. “ Dennoch konnte Fumic seinen letzten Auftritt bei Olympischen Spielen genießen: „Es war schon nochmal was Besonderes, über die Zielgerade zu fahren.“ Im Fernsehen war zu sehen, wie Fumic freundlich winkend Abschied von den Olympischen Spielen nahm.

Foidl: „Das stressigste Rennen meiner Karriere“
Eine gute Leistung zeigte der Österreicher Max Foidl, auch wenn er es selbst nur so halb positiv sieht: „Ich muss mit dem Ergebnis zufrieden sein“, sagte er gegenüber acrossthecountry.net nach dem Rennen. „Schließlich habe ich international in dieser Saison noch nicht so viel gezeigt. Aber eigentlich hätte ich mir mehr zugetraut.“ Foidl wurde bei seinem ersten olympischen MTB-Rennen von der Hektik und der Aggressivität der anderen Fahrer überrascht: „Man hätte denken können, es geht um was“, meinte er nach dem Rennen lachend. Im Wettkampf selbst sah er das allerdings anders: „Ich bin noch nie so ein stressiges Rennen gefahren, in den ersten Runden hatte ich nicht mal Zeit zum Trinken. In einem normalen Weltcup wird um Position 20 herum deutlich sozialer gefahren.“ Allerdings gibt es da vielleicht auch mehr Überholmöglichkeiten: „Es gab nur wenige kurze Passagen, bei denen das gefahrlos möglich war“, berichtet Foidl unisono zu Brandl. „Gerade bergab hätte ich oft schneller fahren können, aber man konnte oft fast eine halbe Runde lang nicht überholen.“

224700296_4067423219973240_7368619408661109833_nVan der Poel: Kapitaler Sturz in der ersten Runde
Ein halbes Rennen lang musste auch der Niederländer Mathieu van der Poel, Mitfavorit auf die Goldmedaille, versuchen, zu überholen. Denn schon in der ersten Runde, als es zum ersten Mal über einen mächtigen und schnellen Drop an der höchsten Stelle des Kurses ging, stürzte der Weltklassefahrer schwer: im Training war an dieser Stelle eine Rampe aufgebaut, die bereits zum Training am Vortag entfernt und wohl auch im Teammanager-Meeting so angekündigt worden war. Van der Poel, in diesem Moment auf Rang 5 liegend, sprang nicht wie alle anderen in der Spitzengruppe, sondern drückte in voller Fahrt sein Vorderrad nach unten, um über die Rampe sicher abzurollen. Doch ohne Rampe führte das Manöver zu einem heftigen Überschlag, der ihm folgende Tom Pidcock konnte gerade noch ausweichen. Erst sah es so aus, als hätte ich Ven der Poel bei dem Sturz verletzt, doch knapp eine Minute später saß er wieder auf dem Rad und jagte dem Feld hinterher. In teils halsbrecherischen und waghalsigen Überholmanövern konnte er lange Zeit sogar den Abstand zur Spitze mehr oder minder konstant lassen, doch nach dem halben Rennen – mittlerweile hatte er rund 25 der 38 gestarteten wieder überholt – musste er dann doch mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgeben. Offensichtlich hatte er sich bei dem Sturz an der Hüfte verletzt. „Ich werde zurückkommen!“, twitterte der 26-Jährige mittlerweile.

Pidcock: Youngster und leichter Allrounder
Mit seinem Sieg schrieb Tom Pidcock Geschichte, und das nicht nur als bislang jüngster MTB-Goldmedaillen-Gewinner, vier Tage vor seinem 22. Geburtstag: „Ich fühle mich wirklich gut in Form“, hatte der Brite aus Leeds vor dem Rennen gesagt: „Ich hätte auch das Straßenrennen fahren können, aber ich habe auf dem Mountainbike bessere Chancen auf eine Medaille, so einfach ist das. Deshalb mache ich das jetzt.“ Nachdem er Anfang des Jahres erfolgreich im Cyclo-Cross und auf der Straße unterwegs war, konzentrierte sich Pidcock im Frühjahr vor allem auf die Cross-Country-Rennen: Bei seinem beeindruckenden Debüt in der Elite-Klasse in Albstadt (fünfter Platz, nachdem er aus der letzten Reihe gestartet war) folgte ein gradnioser Sieg im tschechischen Nove Mesto, wo er mehr als eine Minute vor seinem niederländischen Rivalen Mathieu van der Poel ins Ziel kam. Als einen der Gründe für seinen Erfolg auf dem Mountainbike nennt Pidcock sein Gewicht: „Ich denke, mein Gewicht ist wichtig. Während der Saison wiege ich weniger als 60 Kilo“, verriet er. „Aber es liegt auch an meinen natürlichen technischen Fähigkeiten.“

Dabei wäre Pidcock, obwohl U23-Weltmeister, fast gar nicht in Tokio mit dabei gewesen: zunächst hatte sich Großbritannien gar nicht direkt für einen Startplatz bei den Männern qualifiziert, vielmehr war es beinahe schon Glück, dass das Königreich einen Startplatz über die Wertung des besten nicht qualifizierten U23-Fahrers bei der Weltmeisterschaft 2019, ergatterte (der nicht mal Tom Pidcock hieß, sondern der mittlerweile bei jb Brunex Felt unter Vertrag stehende Frazer Clacherty war). Und dann brach er sich zu allem Überfluss beim Training auf dem Straßen-Zeitfahrrad bei einem Sturz das Schlüsselbein. Das wurde aber so schnell operiert, dass er schon eine Woche später wieder trainieren konnte.

Neben Pidcock selbst dürfte noch jemand anderes ganz laut jubeln: Schließlich holte Pidock die zweite Goldmedaille dieser Spiele für das Team Ineos Grenadiers! Vor zwei Tagen hatte der Ecuadorianer Richard Carapaz beim Straßen-Rennen schon mit einem Sieg geglänzt.

Link zum kompletten Video beim ZDF (geoblocked, verfügbar bis 02.08.2021)

Ergebnis:

Men XC results: 28.25 km (1 Start Loop x 1.3 km + 7 Laps x 3.85 km)
1 Thomas Pidcock (Great Britain) 1:25:14
2 Mathias Flueckiger (Switzerland)  +0:20
3 David Valero Serrano (Spain) +0:34
4 Nino Schurter (Switzerland) +0:42
5 Victor Koretzky (France) +0:46
6 Anton Cooper (New Zealand) +0:46
7 Vlad Dascalu (Romania) +0:49
8 Alan Hatherly (South Africa) +1:19
9 Jordan Sarrou (France) +1:36
10 Milan Vader (Netherlands) +2:07
11 Anton Sintsov (Russia) +2:27
12 Filippo Colombo (Switzerland) +2:50
13 Henrique Avancini (Brazil) +2:55
14 Christopher Blevins (United States) +2:59
15 Jofre Cullell Estape (Spain) +3:02
16 Martin Vidaurre Kossmann (Chile) +3:19
17 Maximilian Foidl (Austria) +3:31
18 Jens Schuermans (Belgium) +3:53
19 Bartlomiej Wawak (Poland) +3:56
20 Gerhard Kerschbaumer (Italy) +4:34
21 Maximilian Brandl (Germany) +4:35
22 Sebastian Fini Carstensen (Denmark) +5:14
23 Jose Gerardo Ulloa Arevalo (Mexico) +5:43
24 Erik Haegstad (Norway) +6:00
25 Luca Braidot (Italy) +6:16
26 Peter Disera (Canada) +6:31
27 Luiz Henrique Cocuzzi (Brazil) +7:07
28 Manuel Fumic (Germany) +7:14
29 Kohei Yamamoto (Japan) +7:21
30 Daniel McConnell (Australia) +7:58
31 Alex Miller (Namibia) +9:12
32 Andras Parti (Hungary) +10:19
33 Shlomi Haimy (Israel) +11:44
34 Nadir Colledani (Italy) -1 lap
35 Periklis Ilias (Greece) -3 laps
36 Peng Zhang (China) -3 laps
DNF Ondrej Cink (Czech Republic)
DNF Mathieu van der Poel (Netherlands)
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