Anne Terpstra: Ich kann meine kleine Welt jetzt durch eine andere Brille anschauen

Die Weltcupsiegerin im Interview: Ein Sieg, der drei Fragen beantwortet

Anne Terpstra war in den vergangenen paar Jahren hier im Blog mehrfach ein Thema. Das lag daran, dass sie einige Bundesliga-Rennen fuhr (und gewann) und auch daran, dass sie mit Verletzungen zu kämpfen hatte. Jetzt gibt es ein Interview mit ihr, weil ihr etwas ganz Besonderes gelungen ist. Die 28-Jährige ist die erste Niederländerin, die einen Cross-Country-Weltcup in der Elite-Kategorie gewinnen konnte. Es kam ziemlich überraschend, auch für die Ghost-Bikerin selbst. Im Gespräch taucht hinter der Startnummer ein offener Mensch auf, der sich viele Gedanken leistet über das eigene Tun. Wir erfahren, wie der Erfolg zustande kam, welche, für sie, gravierenden Fragen ihr der Sieg beantwortet hat, was in diesen Momenten nach der Ziellinie für sie emotional „das Allergeilste“ war und warum sie sich in einem Zitat von José Hermida so sehr wiederfindet.

ACC: Anne, erste Frage: hast Du den Weltcup in Andorra als eines Deiner Quali-Rennen für Olympia ausgewählt?
Anne Terpstra: Nein.

Wie bitte?

Nein. Ich weiß, mein Timing ist da vielleicht nicht so gut. Aber die Höhe war mir ein zu großer Unsicherheitsfaktor, in der Höhe konnte ich meine Leistung noch nie abrufen. Ich habe mich zwar darauf vorbereitet, aber ich wusste vorher nicht, wie es werden wird.

 
Einschub: Das Qualifikations-System des Niederländischen Radsport-Verbands KNWU sieht vor, dass die Mountainbiker über einen bestimmten Zeitraum vier Rennen auswählen können, in denen sie planen, die WM-Norm

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In Albstadt feierte Terpstra Premiere auf dem Cross-Country Weltcup-Podium ©Irmo Keizer

(Top Zwölf bei der WM, Top Zehn bei der EM, Top Sechs im Weltcup zu erreichen. Schon in Albstadt war Terpstra als Fünfte ein entsprechendes Ergebnis gelungen, doch sie hatte das Rennen nicht gewählt. Nove Mesto hatte sie dann gewählt, da reichte es als Siebte aber nur zu einer halben Norm (bis Platz 12), die sie zweimal braucht.

 

Das ist eigentlich der Hammer. Du gewinnst einen Weltcup und hast die Quali trotzdem noch nicht.
Jeder sagt, das ist Drama, aber ich finde, es wäre schlimmer, wenn ich es gewählt hätte und wäre schlecht gefahren.

Und Les Gets? Hast du das ausgewählt?
Nein, auch nicht. Ich habe die EM und Val di Sole ausgewählt. Wenn es da nicht klappt, habe ich noch eines übrig.

Du sagst, du hast dich auf die Höhenlage von Andorra vorbereitet.
Ja, vielleicht habe ich da auch besonders davon profitiert. Ich war zwei Wochen zuhause im Höhenzelt und dann noch zwei Wochen in Südtirol. Auch die Woche in Andorra waren wir auf 1400 Metern.

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In der Abfahrt eine Lücke gerissen: Anne Terpstra ©Irmo Keizer

Wie ordnest du, zwei Tage danach, deine Leistung in Andorra selber ein?
Sicher, meine Leistung war sehr gut, aber es war ein Weltcup-Rennen wie alle anderen. Dass ich da vorne war, hat mich gar nicht so gekümmert. Ich bin mein eigenes Tempo gefahren, ich war nicht am Limit, vielleicht hat das am Ende den Sieg gebracht. Auf der anderen Seite hatte ich vor der Höhe so viel Respekt und habe auch deshalb nicht früher Gas gegeben.

Du warst nach Platz fünf im Short Track aus der ersten Startreihe von Anfang an vorne dabei.
Ich bin die ersten zwei Runden erst mal nur mitgefahren. Als vorne schneller gefahren wurde, da habe ich schon gemerkt, dass ich mitgehen könnte. Aber ich bin erst mal hinter Kate (Courtney) geblieben, weil ich dachte, die weiß schon wie man sich das Rennen einteilt. Aber dann hat sie an Boden verloren und ich bin selber weiter gefahren. Ich war dann überrascht, dass ich so schnell so weit nach vorne gekommen bin..

..zu Pauline Ferrand Prevot, die da eine Lücke gerissen hatte.
Ja. Und ich wusste, dass ich im Downhill schneller bin als sie. Deshalb bin ich vor der Abfahrt nach der Tech-Zone noch an ihr vorbei gefahren. So ist die Lücke entstanden. Das war auch der einzige Moment, in dem ich realisiert habe, dass ich in einem Weltcup-Rennen vorne bin. Das hat mich kurz gestört in meiner Konzentration. Ich dachte, das ist genau der Gedanke, den du jetzt nicht gebrauchen kannst. Ich bin dann einfach weiter gefahren, als wäre es ein Bundesliga-Rennen.

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„Als wäre es ein Bundesliga-Rennen“: Anne Terpstra auf dem Weg zu ihrem ersten Weltcupsieg ©Traian Olinici

Der Abstand nach hinten wuchs auf über 15 Sekunden an.
Ich wusste nie, wie groß die Lücke ist. Ich habe dann gemerkt, dass Jolanda näher kommt. Ich habe nur zugehört, was Andi (Gilgen, Technik-Coach von Ghost) gerufen hat: lass sie kommen. Es war aber gut, dass es lange gedauert hat, bis sie da war. Ich hatte keine Panik, sondern dachte nur: schau mal, was sie macht.

Ihr seid dann zusammen gefahren bis zum Beginn der letzten Runde. Da hat Jolanda am ersten Berg beschleunigt, du bist mitgefahren und hast am zweiten Anstieg attackiert.
Das was von außen alle als eine Attacke wahrgenommen haben, das war gar keine Attacke. Ich wusste, sie darf auf keinen Fall vor mir in den Downhill, weil sie da so unheimlich schnell ist. Dem muss ich aus dem Weg gehen, sonst muss ich eine Lücke schließen. Deshalb bin ich da vorbei. Dass ich gleich so einen Vorsprung heraushole, das habe ich nicht erwartet.

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Anne Terpstra mit Jolanda Neff am Hinterrad: „Das war gar keine Attacke“ ©Erhard Goller

Du hast also von außen nur wenig Informationen mitbekommen?
Ich habe anscheinend viel gar nicht gehört. Im Kopf ist das Rennen auch irgendwie neutral abgelaufen. Ohne dass ich mir gesagt hätte, es ist gut oder es ist schlecht, was du machst. Ich bin einfach gefahren und das Rennen ging echt schnell vorbei.

Wenn es schnell vorbei ging, dann musstest du vermutlich auch nicht viel leiden, oder?
Ja, da hast du vermutlich Recht. Ich habe auch an verschiedenen Stellen nicht Vollgas gegeben, sondern mich kurz entspannt. Es ist anders, wenn du in Führung liegst. Ich habe mich getraut Kraft zu sparen, weil ich erwartet habe, dass ich sie noch brauchen werden. Wenn du hinten liegst, verlierst du (mit jeder Ruhephase) Zeit, da ist das viel schwieriger.

Wie erklärst du dir diesen überraschenden Sieg?
Ich verstehe nicht, wie das sein konnte. Ich habe echt einen guten Tag erwischt. Aber ich sage auch: es gibt viele Frauen, 15 vielleicht, die es können. Dazu gehöre ich. Aber man geht trotzdem immer davon aus, dass man es nicht kann.

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„Das Allergeilste“: Den Sieg mit dem Team feiern ©Irmo Keizer

Was bedeutet dieser Sieg für dich persönlich und für dich als Sportlerin?
Für mich persönlich? Hmm, es klingt vielleicht ganz schlimm, aber nachdem die letzten Jahre für mich nicht einfach waren, ist der Sieg eine Rechtfertigung dafür, dass das was ich tu’, richtig ist. Ich muss mir nicht mehr einreden, dass es richtig ist, jetzt ist es gut. Ich habe mich immer gefragt, was bringt es denn, was du machst? Das war eine Riesenfrage für mich, auch wenn mich nicht alle verstanden haben. Mit dem Sieg habe ich das Gefühl, dass dieser Teil abgeschlossen ist. Eine Bestätigung dafür, dass das, was ich mache, passt. Es ist ein geiles Gefühl.

Und sportlich?
Das größte Rennen, das ich bisher gewonnen habe. Es ist auch cool, die Auswirkungen in den Niederlanden zu registrieren.

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Anne Terpstra und Team-Physio Anja Isajlovic ©Irmo Keizer

Aber das Allergeilste ist, dass das Team jetzt so viel positives Feedback bekommt. Ich bin 2016 zu Ghost Factory Racing

gekommen, jedes Jahr hatte ich unterschiedliche Probleme (unter anderem ein Knöchelbruch Anfang 2018). Jedes Jahr war ein Schritt, den man aber nicht immer in den Ergebnissen gesehen hat. Deshalb ist es so toll, dass es offenbar immer ein Schritt nach vorne war. Und das Team ist den Weg mit mir gegangen.

Das ist also auch ein Dankeschön ans Team.
Ja, und für das Team hat das auch eine Bedeutung Anja (Isajlovic, Team-Physio) sagte mir, sie fand es cool, dass ich mich nicht alleine habe feiern lassen, sondern gleich zu den Betreuern gekommen bin. Es ist das Allerwichtigste, so einen Erfolg mit Leuten teilen zu können, die mir was bedeuten. Du hast mir mal von José Hermida erzählt, ich bringe das Zitat nicht mehr zusammen…

..ich vermute, du meinst die Antwort, die er mir 2002 vor der WM auf die Frage nach dem WM-Titel gegeben hat: Wenn du Weltmeister wirst, dann bist du deshalb kein besserer Mensch, aber wenn du ein guter Mensch bist, dann bist du ein besserer Weltmeister.
Ja, genau, das meine ich. Ich freue mich so arg, dass mir die Leute den Sieg gegönnt haben. Jolanda (Neff) , Yana (Belomoina), sie haben mir das gesagt und auch ein paar Männer während ihres Warmup. Wenn ich kein guter Mensch wäre, dann hätten sie das wohl nicht gesagt. Darauf kommt es letztlich an. Jede Person hat eine eigene Geschichte, einen

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Innige Umarmung: Jolanda Neff gratuliert Anne Terpstra ©Erhard Goller

eigenen Weg. Wenn man den geht und das belohnt wird mit einem Resultat, ist das toll. Aber wichtig ist, den eigenen Weg zu gehen.

Jenny Rissveds hat neben dir die andere bemerkenswerte Geschichte geschrieben. 2017 hat sie wegen Depressionen aufgehört, jetzt ist sie im zweiten Weltcup nach ihrem Comeback als Fünfte aufs Podium gefahren. Hast du im Zuge deiner eigenen Emotionen mitbekommen, was das bei ihr ausgelöst hat?
Nicht so viel. Ich habe über sie natürlich alles gelesen, aber persönlich kenne sie nicht so gut. Auf dem Podium hat sie mir gesagt, dass sie sich freut, dass ich gewonnen habe. Es war schön zusammen zu feiern. Für sie war es ein neuer Anfang.

Sie sagte im Interview sinngemäß, dass sie sich nicht wieder von Resultaten bestimmen lassen will. Aber jetzt kämpfe sie genau darum. Sie wolle wieder dahin, wo sie mal war, aber die Ergebnisse nicht zum Maßstab machen.
Es ist entscheidend, wie sie damit umgeht, aber ich glaube nicht, dass sie den gleichen Fehler wieder machen wird. Sie hat viel gelernt. Bei mir geht es um ein ähnliches Thema. Jemand hat mich gefragt, ob ich mir Gedanken über nächstes Wochenende mache und was ich davon erwarten würde. Aber ich bin Andorra ganz entspannt angegangen und es hat geklappt. Es ist nur wichtig, dass man sich das bewahrt.

Leistungssport ist immer ein Vergleich und etwas, das sich an Ergebnissen entscheidet.
Ja, das ist super schwierig und genau die Frage, die mich ewig aufgeregt hat und ich für mich nicht richtig beantworten konnte. Manche Leute schauen jetzt anders auf mich, aber ich bin die gleiche Anne wie am vergangenen Samstag, der Sieg ist nur ein Bonus und die Chance mit Leuten zusammen zu feiern, die mir wichtig sind. Wenn ich in Les Gets Zehnte geworden wäre und alles gegeben hätte, dann wäre das auch gut gewesen.

Nach den ersten beiden Weltcups habe ich mir gesagt, ich glaube, dass ich gewinnen kann, wenn alles perfekt läuft. Ich bin zufrieden, wenn ich alles gemacht habe, was ich kann. Wenn es Sachen gibt, die besser sein könnten, dann bin ich nicht zufrieden. Aber das kann ich erst so einfach sagen, nachdem ich mal gewonnen habe.

War es eben dein eigener Weg da hin?
Ich habe echt lange mit der Frage gekämpft, warum mach’ ich es denn? Was ist genügend gut – ich hasse das Wort: genügend. Ich wünsche mir, dass ich es ganz lange so sehen kann, wie jetzt. Wenn ich es so sehen kann und so fühle, dann macht es mir Spaß.

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Viele Antworten auf die Fragen der Journalisten, drei auf ihre eigenen: Anne Terpstra ©Irmo Keizer

Wenn nur Platz eins genügend ist, dann würde es im Umkehrschluss auch nur der Sieg wert sein, das zu tun, was man tut.
Genau so ist es eben nicht. Seit dem Sieg am Sonntag, ich weiß nicht warum, kann ich das so fühlen. Im Prinzip fahren wir kein Rennen gegeneinander (im Sinne von Gegnerschaft), sondern es geht darum, dass jede ihre jeweilige Leistung abrufen kann. Ich merke, dass nicht jeder versteht, dass ich das als Problem empfinden konnte. Es gibt schon welche die drüber nachdenken. Ich kenne ihn nicht, aber ich glaube, Henrique Avancini ist auch so ein Beispiel.

Erst Mensch, dann Sportler.
Ja genau, das meine ich.

Wenn du zurückschaust, fünf, sechs Jahre. Hast du dir das selbst zugetraut, einmal einen Weltcup zu gewinnen?
(Lacht). Da muss ich gar nicht so weit zurückgehen. Mein Trainer (Guido Vroemen) meinte, nach den ersten beiden Weltcups: wenn du das (eine bestimmte Fähigkeit) noch kannst, dann kannst du auch gewinnen. Ich hätte mir das nicht geglaubt. Klar, am Ende will man gewinnen. Auf jeden Fall so gut sein, wie möglich und im besten Fall bist du oben. Es war ein weiter Weg für mich, viele Schritte. Das war auch ein Grund immer weiter zu machen und nicht Studieren zu gehen. Ich war neugierig wo das endet, wo die Decke ist und habe einfach weiter gemacht. Aber das aussprechen zu können, das zu glauben, das war ein Teil meiner schwierigen Fragen. Und ich weiß nicht, warum sich das jetzt geändert hat.

 

Einschub: Anne Terpstra hat einen Bachelor-Abschluss in Medizin. 2013 traf sie die Entscheidung ganz auf den Sport zu setzen und erst mal nicht weiter zu studieren.

 

War die Zeit einfach reif, war deine Entwicklung jetzt vielleicht einfach an dem Punkt?
Wenn ich zum Beispiel Sina in Nove Mesto nehme. Also ich gönne es ihr natürlich, aber ich frage mich, wie kann es sein, dass sie im zweiten Elite-Weltcup aufs Podium fahren kann und ich so lange dazu brauche? Aber ich musste diesen Weg gehen und jetzt ist es okay.

Was ist okay?
Ich kann jetzt drei Fragen beantworten, die am Ende alle miteinander zu tun haben. Es ist Leistungssport, aber es geht trotzdem nicht nur um Leistung. Irgendwas in mir wollte gewinnen und irgendwas in mir hat auch dran geglaubt. Und ich kann meine kleine Welt jetzt durch eine andere Brille anschauen. Ich habe es mir schwer gemacht und denke, es wird jetzt leichter.

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So macht es (auch) Spaß: Champagner-Party mit Daniela Campuzano, Jolanda Neff, Anne Terpstra, Yana Belomoina und Jenny Rissveds ©Irmo Keizer

Deine Landsfrau Anne Tauber lag in Nove Mesto in der letzten Runde vorne, den Sieg vor Augen und hat einen Fehler gemacht.
Sie sagte im Ziel gleich: ich war noch nicht reif für einen Sieg. Sie wird noch kommen. Es ist da vermutlich noch eine offene Box, wo ein Check rein muss, die sie abhaken muss. Ich wünsche mir, dass sie die nächsten Schritte tun kann. Es ist übrigens interessant, dass in Nove Mesto fünf andere Leute auf dem Podest standen als in Andorra. Das zeigt auch, dass so viele gewinnen können.

Seit einer ganzen Zeit schon, sind die Damen-Rennen höchst spannend und kaum ausrechenbar.
Ja, ich gehe jedes Rennen mit Neugierde an, was passiert. Das macht es ja cool und es macht vor allen Dingen Spaß.

Anne, herzlichen Dank für dieses offene Gespräch.

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