Tokyo2020: Dreifach-Erfolg für die Schweizerinnen: Neff vor Frei und Indergand – der ausführliche Bericht

Die Schweizerinnen dominierten – vor allem, weil sie sich weniger Fehler leisteten als ihre Verfolgerinnen. Regen hatte die Strecke wesentlich weniger rutschig gemacht als zunächst befürchtet.

Einigen Zuschauern blieb wohl fast das Herz stehen, als die Frauen zum ersten Mal über den Drop schossen, an dem Titelfavorit Mathieu van der Poel am Vortag so spektakulär gestürzt war und deswegen später das Rennen aufgeben musste. Van der Poel hatte nicht mitbekommen, dass eine Rampe nur zu Trainingszwecken aufgebaut und fürs Rennen wieder abgebaut worden war. Nun hatten die Verantwortlichen nach den heftigen Regenfällen am Morgen diese Rampe wieder aufgebaut. Die zu diesem Zeitpunkt führende Weltmeisterin Pauline Ferrand-Prevot bremste kurz, um dann ihr Vorderrad auf die Rampe zu drücken, während Neff an ihrem Hinterrad Schwung holte und zum Sprung ansetzte. Um eine Kollision und damit auch einen gemeinsamen Sturz über den Drop zu vermeiden, versuchte Neff noch links an Ferrand-Prevot vorbeizukommen, kam dabei aber seitlich von der Rampe ab und wäre fast ebenso gestürzt wie Van der Poel. Doch Neff konnte sich akrobatisch retten und blieb am Hinterrad von Ferrand-Prevot.

Wenige Sekunden später – das Rennen war gerade mal 11:26 Minuten alt – ereignete sich dann die wohl rennentscheidende Szene: Parallel zueinander ritten die beiden, die schon einen gehörigen Vorsprung hatten, durch die Wellen der Double Line, die in einem kurzen, mit großen, flachen Wackersteinen gepflasterten Anstieg mündeten. Eigentlich kein Problem für die beiden Profis dort gemeinsam hochzukommen, aber Ferrand-Prevot geriet in Rückenlage, rutschte weg und stürzte ins Fangnetz, während ihr Rad den gerade erklommenen Abhang über die Steine wieder hinunterschlitterte. Ferrand Prevot musste ihrem Rad hinterher klettern und danach versuchen, die rutschigen Steine wieder nach oben zu kommen – und verlor dabei nicht nur fünf Plätze, sondern vor allem 30 Sekunden Zeit, die sie später viel Kraft kosten sollten, um das Loch wieder zuzufahren. 18 Sekunden hinter Neff hatte sich zu diesem Zeitpunkt eine Vierergruppe gebildet, mit den beiden anderen Schweizerinnen Sina Frei und Linda Indergand, der Britin Evie Richards und der Gold-Favoritin Loana Lecomte aus Frankreich.

Richards attackierte aus dieser Verfolgergruppe heraus, konnte aber den Abstand, den sie schnell herausgefahren hatte, nicht weiter ausbauen. Dafür schloss von hinten die Niederländerin Anne Terpstra auf, und auch Ferrand-Prevot gelang der Anschluss an diese Verfolgergruppe, die allerdings mittlerweile 30 Sekunden Rückstand auf Neff hatte. Und während hinten die erst 19-jährige Ungarin Kata Vas aufschloss, gelang es den beiden Schweizerinnen in der Verfolgung, zu Richards aufzuschließen und so ein kleines Loch zu den beiden Französinnen und der Niederländerin aufzutun. Doch Ferrand-Prevot ließ nicht locker und fuhr das Loch im Kampf um die Medaillenplätze wieder zu, attackierte gar und zerriss so die Verfolgergruppe, während ihre Landsfrau mit Schaltungsproblemen zu kämpfen hatte. Nur die beiden Schweizerinnen konnten der Weltmeisterin ansatzweise folgen, während sich Lecomte mit Schaltungsproblemen herumärgern musste. 46 Sekunden beträgt nach der zweiten Runde der Rückstand von Ferrand-Prevot, zehn Sekunden später passieren die beiden Schweizerinnen die Ziellinie.

Doch die Schweizerinnen können den Rückstand wettmachen, zu dritt machen sie sich auf die Verfolgung von Neff, wobei natürlich Indergand und Frei kein Interesse haben, Ferrand-Prevot an die führende Neff heranzuführen, die derweil ihren Vorsprung auf über eine Minute ausbauen kann. Doch dann, Ende der dritten Runde, machen die beiden Schweizerinnen ernst und distanzieren Ferrand-Prevot. Ob diese auch noch ein technisches Problem, einen Sturz oder nur einen Leistungseinbruch hatte, haben die TV-Kameras nicht eingefangen.Einige Zeit später aber rollt die Weltmeisterin mit plattem Hinterrad durchs Bild. Die Entscheidung über die Medaillen ist so gut wie gefallen: sollte nichts Unerwartetes mehr passieren, gehen alle drei Medaillen in die Schweiz.

Eine Runde des wegen Regens am Vormittag auf fünf Runden verkürzten Rennens beträgt der Vorsprung von Jolanda Neff souveräne 90 Sekunden auf ihre beiden Nationalteam-Kolleginnen, die noch gemeinsam die Ziellinie überqueren. Dahinter geht es für Loana Lecomte, Anne Terpstra und Blanca Vas nur noch um die Plätze, ihr Rückstand auf die Medaillen liegt bei 45 Sekunden.

Nach ihrer langen Solofahrt überquert eine überglückliche Jolanda Neff nach 1:15:46 Stunden Fahrzeit die Ziellinie im Velodrome in Izu. 1:11 Minuten danach folgt ihr Sina Frei, die sich von Linda Indergand lösen und diese noch um acht Sekunden distanzieren konnte. Die erst 19-Jähriga Blanca Vas belegt überraschend den vierten Platz, 2:09 min hinter Neff und 26 Sekunden vor der Niederländerin Anne Terpstra.

Und die Deutschen? Spielten erwartungsgemäß bei der Medaillenvergabe keine Rolle. Während Ronja Eibl im Rahmen ihrer Möglichkeiten bei ihren ersten Olympischen Spielen 19. wurde, wurde Elisabeth Brandau mit Rundenrückstand als 32. gewertet. Sie hatte schon einen schlechten Start erwischt, als ihr die Lokalmatadorin Miho Imai noch vor dem Start-/Zielbogen vors Rad fuhr und so Brandau fast in selbiges gestürzt wäre. Ein Sturz einer Fahrerin am sogenannten Amagi Pass, einer künstlichen, zweispurigen Engstelle nur wenige hundert Meter nach dem Start bremste die 35-Jährige aus Schönaich noch weiter aus.

Im Gegensatz dazu war der Österreicherin Laura Stigger zunächst ein richtig guter Start ins Rennen gelungen, sie führte das 38-köpfige Feld mutig durch die Startrunde. Bei der zweiten Zwischenzeit der ersten Runde hatte sie aber schon den Kontakt zur Spitzengruppe verloren, eine Runde später fingen Fernsehbilder ein, wie sie schwer atmend in der Feedzone auf dem Boden saß und nach Luft rang. Sie war die einzige Sportlerin, die das Rennen in Izu nicht beenden konnte.

Im Ziel strahlte Jolanda Neff, die schon 2016 in Rio als klare Titelfavoritin nach Brasilien gereist war, damals aber als Sechste die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte: „Mein Ziel war heute, einfach Spaß zu haben.“ Den hatte die 28-Jährige aus Thal (SG) ganz offensichtlich. Souverän hatte sie ab der ersten Runde allein ihre Kreise gezogen, niemand störte sie dabei: „Ich lieferte immer die besten Ergebnisse ab, wenn ich allein für mich fahren konnte.“ Vor allem ihre Geschwindigkeit in den Downhills sei der Schlüssel zu ihrem Erfolg: „Ich fahre schneller bergab als die meisten anderen, deswegen kann ich es im Anstieg dann ein bisschen lockerer angehen lassen und so einfach meinen Rhythmus fahren.“

Dabei hatten die Athletinnen nur eine Stunde Zeit, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen: am Morgen hatte es noch heftig auf der Halbinsel Izu geregnet. So änderten sich nicht nur der Untergrund: die Verantwortlichen entschieden sich, aus Sicherheitsgründen einige A-Linien zu sperren und an anderen Stellen den Kurs zu verbreitern. „Wir mussten neue Linien in den Rock Gardens und den Downhills finden. Zum Glück hatten wir einen Technikcoach dabei, der uns dabei half. Und hier hat sich dann gezeigt, wie gut du mit deinem Sportgerät umgehen kannst.“

Für Neff war der Sieg in Izu das Ende einer langen Durststrecke. Ihr letzter Weltcup-Sieg datiert auf 2018, als sie in La Bresse gewann, ihr letzter Erfolg bei einem internationalen Rennen war genau der Testevent in Izu im Oktober 2019, bevor sie im Dezember den Horrorcrash in den USA erlitt, mit Milzriss und zusammengefallenem Lungenflügel. Doch Ende 2020 kam die Form wieder, beim Weltcup in Leogang im Juni dieses Jahres, als die Form endlich wieder da war, stürzte sie auf Platz 2 liegend so unglücklich, dass sie sich einen Bruch der Mittelhand zuzog. Ein Start bei den Olympischen Spielen stand plötzlich in Frage. Doch die sechs Wochen unfreiwilliger Rennpause taten der ehemaligen Weltmeisterin offensichtlich gut. Nachdem sie am Freitag zum ersten Mal seit ihrem Sturz in Leogang wieder im Gelände unterwegs war, zeigte sie sich zuversichtlich, das Olympische Rennen bestreiten zu können. „Heute war einfach der perfekte Tag“, freute sich die frischgebackene Olympiasiegerin über ihren eindrucksvollen Erfolg: „Aber ich glaube, ich brauche noch ein bisschen, bis ich das wirklich realisiert habe.“

Ähnlich sehen das wohl auch ihre beiden mit Edelmetall dekorierten Mitstreiterinnen: „Es ist einfach unfassbar, von meinen ersten Olympischen Spielen mit einer Silbermedaille nach Hause zu fliegen. Dass ich dann auch noch mit zwei anderen Schweizerinnen auf dem Podium stehen darf, ist das Tüpfelchen auf dem i!“ freute sich Sina Frei. Sie habe das ganze Rennen über an sich geglaubt und an die Tatsache, dass es mit dem Podium heute etwas werden könnte, auch wenn es am Anfang durch den Stau am Amagi Pass etwas schwieriger aussah. Frei profitierte nach eigenen Worten vor allem mental von der Zusammenarbeit mit der Drittplatzierten Linda Indergang: „Wir haben uns gegenseitig gepusht.“ Indergand hingegen war vorsichtiger in ihrer Einschätzung: „Ich habe erst auf der Zielgeraden wirklich daran geglaubt, dass heute ein Kindheitstraum wahr wird. Vorher weiß man ja nie, was noch alles passieren kann.“

So was ähnliches dürfte sich Elisabeth Brandau schon vor dem Rennen gedacht haben, als sie aus dem Fenster im Cycling Village den Regen sah, der all ihre Hoffnungen auf eine gute Platzierung zunichte machte: „Ich habe mich so gut gefühlt gestern“, sagte sie nach dem Rennen den Tränen nah gegenüber acrossthecountry.net. „Ich war mental richtig gut auf die Strecke eingestellt. Doch dann kann der Regen. Das hat mich voll aus der Bahn geworfen.“ Auf Anraten des Bundestrainers verzichtete sie auf eine erneute Streckenbesichtigung vor dem Rennen, sie solle lieber ihre übliche Vorbereitungsroutine einhalten: „In den technischen Passagen habe ich gefühlt auch gar nicht so viel verloren, sondern eher in den Übergangstücken. Bergauf habe ich erst gegen Ende des Rennens Linien entdeckt, die mir geholfen haben. Aber ich bin bergauf auch oft gestrauchelt. Mein größter Fehler aber war wohl, die Runde nicht nochmal abzufahren und dann mit Selbstvertrauen am Start zu stehen“, erzählte sie traurig.

Auch Ronja Eibl war alles andere als glücklich mit ihrem 19. Platz: „Ich habe mich von Runde 1 an nur durchgequält“, berichtete sie: „Und das Rennen kam mir ewig lang vor.“ Dabei war es gar nicht der regennasse Untergrund, der der 21-Jährigen aus Grosselfingen Probleme bereitete: „Durch die hohe Luftfeuchtigkeit bekam ich Probleme mit dem Atmen, dadurch Seitenstechen und schließlich haben dann auch noch die Beine zugemacht. Kurz: mir ging es körperlich richtig schlecht.“ Durch die mangelnde Konzentration waren Fahrfehler unvermeidlich, und zu allem Überfluss versagte auch noch die Technik: „Wegen des Drecks kam ich kaum noch ins Pedal, und zum Schluss hat dann auch die Schaltung nicht mehr richtig funktioniert.“

Link zum kompletten Video beim ZDF (geoblocked, verfügbar bis 02.08.2021)

Results from the Olympic Womens XC in Izu, Japan

20.55 km (1 Start Loop of 1.3 km + 5 Laps of 3.85 km)
1 Jolanda Neff (Switzerland) 1:15:46
2 Sina Frei (Switzerland) +1:11
3 Linda Indergand (Switzerland) +1:19
4 Kata Blanka Vas (Hungary) +2:09
5 Anne Terpstra (Netherlands) +2:35
6 Loana Lecomte (France) +2:57
7 Evie Richards (Great Britain) +3:23
8 Yana Belomoina (Ukraine) +3:54
9 Haley Batten (United States) +4:27
10 Pauline Ferrand Prevot (France) +4:32
11 Anne Tauber (Netherlands) +4:32
12 Malene Degn (Denmark) +4:48
13 Caroline Bohe (Denmark) +5:11
14 Jenny Rissveds (Sweden) +5:42
15 Kate Courtney (United States) +6:33
16 Daniela Campuzano Chavez Peon (Mexico) +7:04
17 Janika Loiv (Estonia) +7:31
18 Catharine Pendrel (Canada) +8:01
19 Ronja Eibl (Germany) +8:13
20 Maja Wloszczowska (Poland) +8:39
21 Tanja Zakelj (Slovenia) +8:52
22 Jitka Cabelicka (Czech Republic) +9:14
23 Sofia Gomez Villafane (Argentina) +9:27
24 Candice Lill (South Africa) +10:34
25 Eva Lechner (Italy) +10:40
26 Rocio del Alba Garcia Martinez (Spain) +10:46
27 Raquel Queiros (Portugal) +12:00
28 Rebecca McConnell (Australia) +14:43
29 Haley Smith (Canada) -1 Lap
30 Viktoria Kirsanova (Russia) -1 Lap
31 Erin Huck (United States) -1 Lap
32 Elisabeth Brandau (Germany) -1 Lap
33 Githa Michiels (Belgium) -2 Laps
34 Bianwa Yao (China) -2 Laps
35 Jaqueline Mourao (Brazil) -2 Laps
36 Michelle Vorster (Namibia) -3 Laps
37 Miho Imai (Japan) -3 Laps
DNF Laura Stigger (Austria)
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