Irina Kalentieva: Eine Karriere zwischen zwischen zwei Welten
Streifzug durch 19 Jahre Profi-Sport, die mit einem Ast in einem saarländischen Wald begannen
Ihre Karriere als Leistungssportlerin ist beendet. Mit bald 42 Jahren hat die zweifache Weltmeisterin Irina Kalentieva* ihre internationale Karriere beendet, ein paar Wochen vor Sabine Spitz (47) und ein Jahr nach Gunn-Rita Dahle-Flesjaa (46), mit denen sie Anfang der 2000er für Merida gemeinsam ein fabelhaftes Damen-Trio bildete, das mehrfach gemeinsam das Weltcup-Podium in Beschlag genommen hat. Mit ihr verabschiedet sich die letzte Fahrerin, die bereits Anfang der 2000er auf dem Podest stand. Eine lange, erfolgreiche Laufbahn, die ihren Anfang im Saarland nahm, mit einem Ast im Oberschenkel. Ein lohnender Streifzug durch ihre Biographie, durch dreieinhalb Teams, Weg-Gefährten, von denen sie gelernt hat, Gummistiefel, die man nicht mehr braucht und einer überraschenden Wahl ins Parlament.
Rein körperlich gehört sie mit ihren 156 Zentimetern vom Scheitel bis zur Sohle zu den kleinsten Rennfahrerinnen, die der Mountainbike-Zirkus je hervorgebracht hat. Bei Merida benötigte sie damals einen Rahmen in Kinder-Größe.
Rein sportlich gehört Irina Kalentieva jedoch zu den Allergrößten, die es in den bisher 30 Jahren in ihrer Disziplin gegeben hat.
Für diejenigen, die den Sport noch nicht so lange verfolgen: 2007 und 2009 war die Russin Weltmeisterin, insgesamt acht Mal stand sie bei einer Cross-Country-WM auf dem Treppchen (plus einmal im Marathon). 2008 holte sie in Peking Olympia-Bronze. 2007 war sie auch Weltcup-Gesamtsiegerin, acht Weltcup-Rennen konnte sie gewinnen. Damit ist sie aktuell die Nummer acht der ewigen Bestenliste über diese drei Jahrzehnte. 24 weitere Male war sie in den Top Drei.
Für Experten mögen zwei andere Zahlenreihen fast noch beeindruckender sein: Von 2003 bis 2018, also bei 16 Auflagen hintereinander, war Irina Kalentieva bei Weltmeisterschaften IMMER in den Top-Ten. Von 2006 bis 2015, also bei zehn Weltmeisterschaften hintereinander, war sie IMMER in den Top Fünf. Eine Konstanz auf solch hohem Niveau muss man erst mal hinkriegen.
Jetzt ist die Karriere beendet. Drei Tage vor dem letzten Rennen ihrer Karriere, bei der WM in Mont Sainte Anne, lässt sich ein Gespräch verabreden. Im Appartement, das sie mit ihrem Ehemann Roger Märki und mit dem Sportlichen Leiter des Möbel Märki-Teams, Jernej Sobocan, während der Weltmeisterschaften in Kanada bewohnt.
Es gibt Kaffee und Irina Kalentieva hat extra Muffins besorgt. So wie sie das von zuhause kennt, in Norvash Shigali, in der Tschuwaschischen Republik. Nicht mit Muffins, aber mit ausgiebiger Bewirtung von Gästen. Sie kann lebhaft erzählen und mehr als einmal wird lauthals gelacht.
In Sequenzen lassen wir ihre Karriere Revue passieren und wie es zu der Entscheidung kam sie zu beenden, zu einem Zeitpunkt, der sogar Roger Märki überraschte. Fangen wir genau damit an.
Irina, im Sommer bist du von einer Reise in die Heimat zurückgekommen in die Schweiz und hast Deinem Mann verkündet: Nach dieser Saison höre ich auf. Wie bist du zu diesem Zeitpunkt zu diesem Entschluss gekommen?
Irina Kalentieva (atmet tief durch): Ich habe immer gesagt, wir schauen von Jahr zu Jahr. Meine Mutter hat immer gefragt: (Irina verändert ihre Stimme und zitiert mit Nachdruck ihre Mutter) Wie lange machst du das noch? Jetzt reicht es doch.
Im September ist sie 83, sie hat einen Tumor im Kopf und wird jedes Jahr schwächer. Sie ist eigentlich eine sehr lebendige Frau, die nie ruhig sitzen konnte. Aber jetzt spürt sie und ich sehe das auch, dass die Kräfte schwinden. Sie sagt jedes Mal: ich will nicht sterben, bevor du kommst. Das trifft mich jedes Mal sehr. Und dieses Mal hat sie das auch gesagt. Vielleicht ist das eine Sache, dass ich gedacht habe, ich muss mehr Zeit nehmen für meine Eltern.
Das war der Impuls?
Ja. Ich habe auf meine Karriere zurückgeschaut und habe gespürt, dass meine Kräfte auch nicht mehr so sind, wie ich sie schon hatte. Ich brauche sehr viel Kraft, um oben zu bleiben. Das miteinander verknüpft, hat mir klar gemacht, dass ich mich entscheiden muss, dass ich mich entscheiden will. Es reicht jetzt auch.
Mit diesen Gedanken bin ich zu Roger nach Hause geflogen. Damit verbunden ist auch der Wunsch mir mehr Zeit zu nehmen mit ihm. Ich habe so viel erlebt, so viel erreicht. Jetzt will ich mir Zeit nehmen, für mich, für Roger, ich will es ruhiger nehmen.
Das heißt, das Fahrrad wird jetzt in die Ecke gestellt?
Ich beende meine professionelle Karriere, aber nicht das Velo fahren. Ich habe immer noch Freude daran. Nein, ich höre nicht auf Velo zu fahren. Nur mit dem professionellen Sport höre ich auf.
Ich werde für mich trainieren und das ist das Schöne: es ist nicht einfach weggeschnitten. Ich kann mit Freude sagen: die WM ist mein letztes Rennen, aber ich werde mit viel Spaß weiter Velo fahren.
Roger sagt, Du würdest 2020 noch mal eine Lizenz lösen…
(alle lachen)
…ist das zur Sicherheit? Falls dir doch was fehlen würde?
Also, nein, es ist keine Sicherheit. Ich bin gewöhnt, eine Lizenz zu haben. Ich sag mal so: wenn ich eine löse, dann habe ich das auf der Seite. Wie ich schon sagte, ich werde weiter trainieren und sportlich bleiben. Und vielleicht ist irgendwann mal in der Nähe ein Rennen, ein Argovia-Cup und ich fühle mich fit und habe Lust, dann habe ich eine Lizenz. So habe ich mir das gedacht. Wenn ich Lust habe, fahre ich halt.
Kann es sein, dass es schwer vorstellbar ist, wenn man etwas 20 Jahre oder länger gemacht hat, was dann mit einem passiert, wenn das plötzlich weg fällt?
Wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich das für mich nicht. Das Zentrale in meinem Leben wird das mit Roger sein. Man könnte denken, es ist schade, es ist traurig. Aber ich habe so viel erlebt, so viel erreicht, deshalb sehe ich das Leben, das vor mir steht als was sehr erfreuliches. Etwas anderes halt, mehr privat. Richtig was erleben, andere Dinge erleben. Ich will auch anderes erleben, nicht nur auf dem Velo. Es gibt viele schöne Sachen, die man machen kann.
Die 25 Jahre Leistungssport gleiten also erst mal hinüber ins Private. Wie dieses Vierteljahrhundert MTB-Sport 700 Kilometer östlich von Moskau begonnen und dann beim Weltcup in St. Wendel 1999 Fahrt aufgenommen hat, das wirkt nach mitteleuropäischen Maßstäben fast abenteuerlich.
Als Kind benutzte Irina Iagoupova das Fahrrad, um von Norvash Shigali ins Nachbardorf oder sonst wo hinzukommen. Das einzige in der Familie und natürlich viel zu groß. Ein Bus kommt nur ein oder zweimal am Tag. Und sie läuft. Einfach so, vielleicht weil der Vater Ausdauersportler war. „Ich bin da einfach von der Arbeit weg gegangen. Das habe ich gebraucht“, sagt sie in einem früheren Interview. Das Leben in der Provinz ist geprägt von Landwirtschaft, Enten, Hühnern, Schweinen, Gemüse-Anbau und Kartoffeln, vielen Kartoffeln.
Mit 14 bekommt sie die Chance in Cheboksary, der 150 Kilometer entfernten Hauptstadt der Tschuwaschischen Republik, die Sportschule zu besuchen. Dort nimmt alles seinen Lauf als Vladimir Krasnov 1993 das Mountainbike entdeckt.
Training auf der zugefrorenen Wolga, 15 Kilometer bei minus 30 Grad und solche Sachen. So wie sie aufgewachsen ist, so wie sie trainiert hat, trainieren musste, das hat möglicherweise die Härte gegen sich selbst, die Bereitschaft sich zu quälen, gefördert. Das, so ihr zeitweiliger Trainer Toni Uecker, zeichnet sie aus.
Bei einem Interview 2007 erzählte Irina Kalentieva von ihrem Heimatdorf, etwa 500 Häuser groß. Nur eine asphaltierte Straße gab es damals. Der Rest versank in der regenreichen Gegend im Matsch. Man brauchte Gummistiefel, um bis zum Haus der Iagoupovs zu gelangen. Man fragt sich, ob das zwölf Jahre später immer noch so ist? Die Frage führt zu einer interessanten Facette ihrer Biographie, einem dreijährigen
Intermezzo als parlamentarische Abgeordnete
Braucht man immer noch Gummistiefel, um zum Haus deiner Eltern zu gelangen?
Irina grinst. Zum Glück nicht. Dafür habe ich gesorgt, als ich im Parlament war.
Wie? Du warst im Parlament? Gewählt?
Irina grinst wieder und nickt. Ja sicher. Im Parlament der Tschwuwaschischen Republik. (laut Wikipedia: 1,25 Mio Einwohner).
Wie kam es dazu?
Das war so: Die Putin Partei (Einiges Russland) hat Kandidaten gesucht. Sie haben mich ausgewählt und der Sportdirektor meines Klubs hat mir berichtet. Ich habe gesagt, ja was, ich bin ja nie da. Mich wählt sicher niemand. Ich habe große Augen gemacht als ich gesehen habe, wer die anderen beiden Kandidaten waren. Wirtschaftsleute und so. Eigentlich hatte ich keine Chance, aber dann haben sie mich gewählt. Ich war völlig überrascht.
Und mit der Putin-Partei, konntest du dich da identifizieren?
Nun, Putin hat viel für den Sport gemacht. Wir haben viel Unterstützung bekommen, Stipendien und so. Für andere
Sachen war er wieder nicht so gut. Ich war stolz, aber es war ein komisches Gefühl, weil ich nie da bin. Ich dachte, ich habe andere Arbeit, aber ich müsste ab und zu dort sein. Zweimal im Jahr bin ich hin, aber das funktioniert natürlich nicht.
Und die Sache mit den Gummistiefeln?
Ja, die Leute vom Dorf haben gesagt: du bist doch jetzt im Parlament. Kannst du nicht dafür sorgen, dass die Straße gemacht wird. Also habe ich Unterschriften gesammelt, bin mit der Liste zum Chef gegangen. Alle anderen Straßen haben Belag, aber unsere Straße kann man nur mit dem Traktor befahren. Sie haben gesagt, auf dem Untergrund kann man keinen Asphalt machen, der gleich wieder kaputt. Aber sie haben mir versprochen danach zu schauen. Im zweiten Jahr habe ich noch mal nachgefragt und dann haben sie tatsächlich angefangen. Es ist jetzt zwar kein Asphalt, aber es ist befestigt. Das ist für uns wie ein Traum.
Roger Märki: „Da konntest du vorher nicht zu Fuß gehen, wenn es gefroren war.“
Ich bin froh, dass ich da Einfluss nehmen konnte.
Konntest du noch anderes bewirken?
Ansonsten habe ich halt versucht den Athleten zu helfen ihre Bedingungen zu verbessern. Die Opposition hat dann mal versucht meinen Sitz neu wählen zu lassen. Aber der Parlaments-Älteste hat die Diskussion gestoppt mit dem Hinweis, dass ich ja so viel für das Land getan hätte. Ich konnte die Diskussion natürlich verstehen.
Wie die Karriere ihren Lauf nimmt
1994 fährt der russische Verband zur EM nach Spindleruv, Tschechien. Juniorin Irina Iagoupova reist mit einem 14 Kilogramm schweren Bike- mit Schlaufen-Pedalen an. Die Klickpedale, die man bei der Konkurrenz sah, leuchteten ein. Kurzfristig wurden welche besorgt, die zwei Nummern zu großen Schuhe mit Papier ausgestopft und der achte Platz eingefahren.
1999, bei der WM in Aare, begegnet Vladimir Krasnov dem Schwaben Thomas Klotzbücher, der für die damalige Billigmarke Merida den Verkauf in Europa ankurbeln soll. Acht Monate später treffen sie beim Weltcup in St. Wendel wieder aufeinander.
Zwei Tage vor dem Rennen stürzt die damals 22-jährige Irina im Training. Ein Ast bohrt sich unglücklich in ihren Oberschenkel. Sie fährt mit der stark blutenden Wunde zurück aufs Expo-Gelände und sucht Krasnov. Der ist gerade mit Klotzbücher im Gespräch. Er sorgt dafür, dass sie das ins Krankenhaus kommt. Die Wunde wird gesäubert, aber nicht genäht. „Deshalb habe ich da immer noch eine Narbe“, sagt sie.
Klotzbücher hält es für unmöglich, dass sie das Rennen fährt, doch Krasnov macht Druck. Moskau habe bezahlt und man
könne jetzt nicht ohne Ergebnis nach Hause kommen. Er geht in St. Wendel in den Wald, sammelt Kräuter, macht einen Verband und vor dem Rennen gibt es eine Schmerz stillende Spritze.
„Ich habe gedacht, okay, dann fahre ich, egal was mit dem Oberschenkel passiert. Thomas hat gesagt: das ist ja ein richtiger Soldat“, erzählt Irina Kalentieva und lacht. „Es ist ein bisschen eine verrückte Geschichte und im Rückblick lustig, sie zu erzählen. Aber ich bin stolz, dass ich durchgehalten habe.“ Es sollte ihr Schaden nicht sein.
Mit der blutenden Wunde wird Irina Iagoupova 32. und Klotzbücher rechnet sich aus, was drin gewesen wäre. Ohne die Verletzung und mit einem Bike, das anstatt 13 Kilo nur 9,5 wiegt.
Er nimmt das Talent für Merida unter Vertrag. 2001 wohnt sie, gemeinsam mit drei anderen Russinnen, bei Klotzbücher, im zweiten Jahr kommt nur noch eine weitere Fahrerin mit, dann steuert die inzwischen mit einem Soldaten verheiratete Kalentieva Deutschland alleine an und beginnt Brezeln zu lieben.
Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits internationale Meriten gesammelt. EM-Bronze gleich 2001, einen zweiten Weltcup-Rang in Kaprun im selben Jahr.
Das Team steigt zur Nummer eins der Welt auf, versammelt unter anderem mit Sabine Spitz, Gunn-Rita Dahle-Flesjaa, José Antonio Hermida und Ralph Näf absolute Weltklasse in seinen Reihen und wird mit diesen Akteuren ein ganzes Stück weit auch stilprägend. Doch es gibt Brüche..
Der Weg durch dreieinhalb Teams
Irina, das Merida-, später Multivan-Merida-Team, war deine erste sportliche Heimat als Profi-Sportlerin. Wie blickst du auf diese fünf Jahre zurück?
Mit sehr viel Freude. Es war mein erstes richtiges Team. Es war familiär, es war lustig. José und Ralph haben Stimmung
gemacht, aber es war nicht nur das. Jeder hat geholfen. Ich habe damals noch nicht gut deutsch gesprochen, aber jeder hat mir geholfen, wenn ich was nicht verstanden habe. Sabine und Gunn-Rita waren im Training oft mit ihren Partner
unterwegs und bin dann da gestanden, als kleines Mädchen (so sagt sie das). Dann haben Ralph und Jose gesagt, komm doch mit uns zum Trainieren. Ich hatte Freude im Team, sie haben mich da so reingezogen.
Wie sehr hast du vom Team profitiert?
Ich habe genau beobachtet, was sie machen, was sie trainieren, wie sie trainieren, was sie essen. Da habe ich sehr viel gelernt. Mit Sabine (verließ Ende 2003 das Team) hatte ich nicht so viel zu tun. Sie hat ihr Programm, ihre Sachen gemacht. Ich habe mehr auf Gunn-Rita geschaut. Sie sagte: du bist meine kleine Schwester. Ich war an zweiter, dritter Position, noch nicht so weit sie schlagen zu können.
Ich hatte sehr viel Respekt vor den Athletinnen. Ich habe zum Beispiel auch geschaut, wie sich Gunn-Rita aufwärmt auf der Rolle und versucht das genauso zu machen. Das war 45 Minuten Vollgas (Irina lacht), das habe ich dann mit ihr gemacht. Das war wie eine Maschine. Wenn sie auf der Rolle saß, ging der Motor an und es ging los, zack,zack,zack. Du hast geschwitzt, mej, wenn ich daran zurück denke (lacht).
Das machst du heute nicht mehr so?
Nein, höchstens 20 Minuten. Ich habe die Sachen genommen, die gut für mich waren. Ab dem dritten Jahr war ich auch mal besser. Wir waren die besten der Welt. Manchmal Erste, Zweite, Dritte (auch im Weltcup). Die Zeit bei Merida hat mir sehr gut getan, ich habe sehr viel gelernt. Zusammengefasst war das eine Zeit mit den besten Athleten der Welt, diszipliniert und familiär. Das war die Grundlage.
Es war deshalb sicher eine Enttäuschung, als man deinen Vertrag Ende 2005 nicht mehr verlängert hat?
(Überlegt kurz)Die Sache war ja so: Wir hatten Freude, es war familiär, da war Diszplin, wir hatten immer Musik am Stand und viele Leute angezogen. Es war wirklich super. Wenn du drin bist, dann denkst du: so muss es sein, das ist endlos. Und schließlich waren wir erfolgreich, sehr erfolgreich. Wenn du dann hörst, dass du nächste Saison nicht mehr dabei bist, nach einer Saison, in der du Ergebnisse gebracht hast (2x Dritte im Weltcup, Weltcup-Gesamt-Vierte), dann verstehst du erst mal die Welt nicht mehr. Aber ich habe es dann angenommen und gesagt, okay, wenn du weg musst, dann musst du halt. Es gab ja Gründe..
Was für Gründe?
Das waren steuerliche Gründe. Weil ich Russin bin. Ich war Angestellte, die anderen waren selbstständig. Kompliziert.
..Topeak-Ergon
Die nächste Station war dann Topeak-Ergon. Wie kam es dazu?
Meine größte Angst war, dass ich zurück muss, nach Russland. Das war das Schlimmste. Ich wollte doch weiter meinen Sport betreiben. Ich habe meine Hände nicht in den Schoß gelegt, sondern sofort mal gesucht, Papiere erstellt, Fotos und
geschaut. Innerhalb von zwei Wochen habe ich ein Team gefunden. Thai Do (Freund und Berater, der bei Conti arbeitet) kam wieder ins Spiel. Er hat mir so viel geholfen, schon als ich nach Deutschland gekommen bin. Mit Kleidung, Brillen und so weiter.
Er hat den Kontakt zu Topeak-Ergon hergestellt?
Ja, er hat nachgefragt. Es gab dann ein Treffen mit Franck Arnold in Frankfurt in einem Café. Eine halbe Stunde hat es gedauert, dann sagte er: machen wir.
Und es hat sich für den Sponsor ausgezahlt.
Eine Veränderung nimmt viel Kraft, aber dadurch wirst du auch motiviert. Ich bin dann ein Jahr später 2007 Weltmeisterin geworden (und Weltcup-Gesamtsiegerin). Bei Topeak-Ergon war ich mehr auf mich alleine gestellt. Wolfram Kurschat und Robert Mennen kamen dazu, ich habe in Aalen gewohnt und meine Sachen gemacht und bei Rennen sind wir zusammen getroffen.
Jedes Team ist anders, aber ich sage mal: wir haben es gut gemacht. Von Kurschat habe ich auch was gelernt. Ich habe mich oft mit ihm unterhalten und viel erfahren. Über Ernährung, Disziplin, Wolfram ist ein außergewöhnlicher Athlet. Ich habe immer noch Respekt vor ihm. Viele können nicht so viel mit ihm anfangen, aber er ist eine interessante Person, man kann viel von ihm lernen.
Und dann hattest du nach acht Jahren praktisch ein Deja Vu-Erlebnis. Du wurdest zum zweiten Mal vor die Tür gesetzt und prompt noch in Hafjell für das Team einen Weltcup gewonnen. Was hat das mit dir gemacht?
Hmm, eigentlich hat das mit mir nichts gemacht. Klar, zu dem Zeitpunkt bist du verletzt. Wenn ein Athlet keine Ergebnisse bringt oder passt nicht ins Team, findet man eine Erklärung, warum es nicht weiter geht. Aber wenn alle zufrieden sind und ich bin eine harmlose, beoboachtende Person, dann denkst du, warum ich.
Aber man muss den großen Zusammenhang sehen. Topeak-Ergon wollte kein Cross-Country mehr unterstützen. Einerseits fragst du dich, warum? Wir sind doch erfolgreich. Andererseits, okay, wenn das ihre Strategie ist, wenn sie so entschieden haben, dann musst du halt was Neues suchen.
…RusVelo
Es war dann aber schwierig?
Ja…
Roger Märki schaltet sich ein: „Die Kommunikation war zu einem sehr späten Zeitpunkt, erst Ende September, Anfang Oktober war es klar.“
Es war sehr schwierig, auch weil ich dann nach Russland gegangen bin.
Du warst zu diesem Zeitpunkt fast 36 Jahre alt ab es da Gedanken ans Karriere-Ende?
Nein, das war kein Gedanke. Es waren nur die Gedanken, wo muss ich hin, was muss ich machen. Ich war realistisch. Ich wollte nicht träumen von Specialized oder so.
Bist du eine Realistin?
Weiß ich nicht. Träumen muss man immer. Wenn du was im Kopf hast, dann kannst du auch Dinge schaffen. Aber du musst sehen, was du leisten kannst, sehr realistisch. Manchmal denke ich, ich sollte mich mehr aufgeben (loslassen), aber meistens bin ich..
Roger Märki vervollständigt den Satz: …„bodenständig, geerdet. Du lebst nicht in Träumen, sondern machst jeden Tag das beste aus dem, was ist. Und du bist extrem fleissig.“
Irina schmunzelt.
Du bist dann bei RusVelo gelandet, eigentlich als Straßenteam aufgestellt. Das war ein schwieriges Jahr, oder?
Ja. Was ich da in einem Jahr erlebt habe, erlebt man sonst in zehn Jahren. Einerseits hatte ich ein Team und bin nicht draußen gestanden. Aber bis ich in dem Team endlich drin war, das hat sich lange hingezogen. Also, einfach ist das nie, aber das war sehr kompliziert.
Als es dann so weit war, wie lief das Jahr dann?
Die Betreuer waren hervorragend. Das waren drei Polen. Beim Trainingslager auf Zypern hat man gleich gesehen, die gehen auf jeden einzelnen Athleten ein. Aber insgesamt habe ich viel auf die eigenen Schultern genommen. Vor allem nachdem Marek Galinski nach dem ersten Treffen auf Zypern tödlich verunglückt ist. Er war eigentlich der Team-Chef für uns Mountainbiker. Durch seinen Tod wurde es dann doppelt schwierig.
..Möbel Märki
Damit war klar, dass du für 2015 was Neues suchen wolltest?
Roger Märki: Ich habe gesagt, wir machen das selber. Irina hatte dann einen Vertrag von einem Sponsor auf dem Tisch, von dem ich gesagt habe: den kannst du nicht unterschreiben, dann machen wir es selber.
Irina nickt. Ich habe nicht so richtig daran geglaubt. Wie sollten wir das machen. Roger hat aber gesagt: doch wir machen das. So ist das Möbel Märki-Team entstanden.
Und wie bewertest du diese fünf letzten Jahre?
Das Beste kam zum Schluss. (Irina lacht). Ich habe mein Glück, meinen Lebenspartner gefunden. Die sportliche Seite ist eine Sache. Wir haben uns immer gefragt, was müssen wir besser machen. Ich habe das mehr persönlich genommen, weil es ein Team ist, das Roger wegen mir gemacht hat. Die andere Seite ist die: Du musst irgendwann mal ein normales Leben führen und ich habe einen Menschen gefunden, mit dem ich das tun will. Wir verstehen uns und das ist das glückliche Ende.
Und was die Bedingungen im Team angeht?
Es muss stimmen, wir müssen einander helfen, man muss sich verstehen, es muss unkompliziert sein. Das war die erste Sache. Dann fragt man sich, wie organisiert man dies und das. Eigentlich läuft es perfekt. (Kleine Pause) Vielleicht sehe ich das so, weil ich nichts Schlechtes sagen will (lacht). Aber nein, ich sehe das so. Jerry (Jernej Sobocan) muss viel machen, aber mit ihm ist es unkompliziert. Er ist ein so offener Mensch.
Ich habe ein paar Teams erlebt. Es gibt Mechaniker, da traust du dich kaum zu sagen, kannst du mir mal das oder das machen. Dieses Gefühl ist bei uns nicht da. Wenn Walter Bonka ( Mechaniker aus Slowenien) da ist, dann ist es sowieso perfekt. Er ist nicht bei jedem Rennen dabei, aber wenn er da ist, dann fühle ich mich wirklich gut. Ich bin sehr froh, dass Roger das Team auf die Beine gestellt hat.
Sportliche Highlights gab es genügend in Deiner Karriere. Welche sind für dich selbst die herausragenden?
Da gibt es schon einige. Um mal ein paar raus zu picken: Der erste Weltmeister-Titel. Die erste Goldmedaille, das war schon was Besonderes. Und Olympia-Bronze in Peking, das war was Berührendes. Mein erster Podestplatz im Weltcup in Kaprun war auch eine riesen Freude. Vom ersten Weltcupsieg in Schladming, da kann ich heute noch einen Film ablaufen lassen (sie schmunzelt).
Und die größten Enttäuschungen? Bleiben da auch welche im Gedächtnis haften?
Auch ein paar, wenn man so nachdenkt. Die Olympischen Spiele in London, als ich Vierte wurde. Da habe ich schon gelitten. Es wäre eine Medaille drin gewesen, wenn ich diesen Sturz nicht gehabt hätte, am Anfang hinter Bresset. Bis ich runter geschalten habe und los gefahren bin, war der Zug abgefahren. Ich hatte das Hinterrad von Bresset, weil ich wusste, sie ist die Beste. Julie ist dann irgendwie in die Zuschauer reingefahren, ich bin hinter ihr stecken geblieben. Das war schon hart, wenn ich so zurückdenke.
Und was kommt jetzt?
Du lebst mit deinem Mann in der Schweiz, deine Familie lebt in einem Dorf in Russland. Das sind zwei Welten oder nicht? In welcher bist du mehr zuhause?
(Lacht). Ich bin mehr in der Schweiz zuhause. Als ich von Russland nach Deutschland kam, hat es länger gedauert. Als ich von Deutschland in die Schweiz kam, habe ich mich schneller zuhause und wohl gefühlt. Wenn ich zu meinen Eltern gehe, ist alles anders. Aber es ist auch zuhause. Ich habe nichts vergessen, ich weiß wo was liegt und wenn ich da bin, packe ich auch gleich wieder an. Im Garten, bei den Kartoffeln und so weiter. Aber meine Zukunft ist in Seengen, das ist mein Zuhause, das ist mein Gefühl.
Und was macht Irina Kalentieva ab Herbst, nach der Sport-Karriere?
Ich versuche so viel wie möglich mit Roger zu machen und zu erleben.
Du hast Sport studiert und viel Erfahrung. Könnte es in Zukunft eine Trainerin Kalentieva geben?
Jetzt erst mal nicht, aber in Zukunft vielleicht schon. Warum nicht.
*Die korrekte Transkription ihres Namens aus dem Russischen, bzw. des Kyrillischen geht wohl so: Irina Nikolajewna Kalentijewa. Ohne Gewähr. Dass hier Kalentieva gewählt wird, hat seinen Ausgang in einem ersten Interview mit ihr, als sie diese Schreibweise selbst vorschlug – und sie auch selbst benutzte. Die UCI benutzte diese Schreibweise ebenfalls, bis man ihr irgendwann ein „y“ anstatt des „i“ verpasste. Manche benutzten auch ein „w“ anstatt des „v“.