Neue Deutsche Meister Marathon: David List und Nadine Rieder (Vollständiger Artikel)
Cross-Country-Fahrer dominieren den Odenwald Bike Marathon 2020
Während sich das Rennen der Männer über drei Runden à 25 Kilometer und 725 Höhenmeter, zusammen als 75 Kilometer und 2175 Höhenmeter erst auf den letzten Kilometern des Odenwald Bike Marathons in Leukershausen entschied, suchte die neue Deutsche Meisterin Nadine Rieder (Rotwild Factory Racing) bereits nach der ersten Runde ihr Heil in der Flucht. Oder wie es die Allgäuerin selbst nannte: „Es war ein komfortables Tempo für mich.“ Nach eigenen Angaben hatte sie schon beim Aufwärmen ein „extrem gutes Gefühl“: „Schon am Start habe ich gemerkt, dass das Tempo der anderen eher zu langsam für mich war. Ich musste mich immer wieder zurückhalten. Aber ich wollte keine drei Runden alleine fahren.“ Aber es funktionierte nicht: „Nach der ersten Runde habe ich aber schon gemerkt: in den Abfahrten konnte ich einen Vorsprung raus fahren, in den Anstiegen konnte ich auch einen Vorsprung rausfahren.“ So fragte sie sich: „Warum also soll ich mein Tempo nicht einfach alleine fahren? Bei der Tour de France fahren sie ja auch immer so lange alleine!“ Den Einwand, dass Ausreißer bei der Tour de France meist auf den letzten Kilometern gestellt werden, wollte sie aber nicht gelten lassen: „Ich war relativ entspannt unterwegs. Ich wusste: Sollte doch noch jemand wieder aufschließen, dann habe ich noch genug Kraft, falls es zum Sprint kommt.“ Aber es kam niemand. Keine ihrer Konkurrentinnen war an diesem Spätsommertag schneller durch den westlichen Odenwald unterwegs als Nadine Rieder, die für besagte drei Runden 3:16:44 Stunden benötigte.
Silber für Leonie Daubermann
Während Rieder aber sicher bereits im Vorfeld zu den Favoritinnen gehörte, waren Platz 2 und Platz 3 gehörige Überraschungen: Silber holte sich die erst 21-jährige Leonie Daubermann vom Stevens Racing Team, ebenfalls eine bayerische Schwäbin. „Ich bin megaglücklich“, jubelte sie im Ziel. Für Daubermann war nicht das Corona-Jahr 2020 eine Katastrophe, sondern das Jahr zuvor, als sie zwei Operationen am Fuß über sich ergehen lassen musste und das ganze Jahr ausfiel. „Ich hatte einen riesigen Trainingsrückstand. Dann habe ich den ganzen Winter über hart trainiert, und auch das ganze Frühjahr und den Sommer 2020. Aber ich konnte meine Form nie zeigen, weil es ja keine Rennen gab.“ Deswegen wolle sie jetzt jedes Rennen mitnehmen, das gerade stattfindet. „Wir müssen dankbar sein, wenn man überhaupt irgendwo fahren kann, auch wenn es „nur“ ein Marathon ist, bei dem man seine Form beweisen kann.“ Und das tat die junge Fahrerin eindrucksvoll, auch wenn sie sagt: „Eigentlich war es ein bisschen zu flach für mich, ich war froh um jeden Berg“, lachte die Zweitplatzierte, musste dann aber auch feststellen: „Auf die Gesamtlänge waren es dann aber doch genug Höhenmeter.“ Immerhin will die mittlere der Daubermann-Schwestern in zehn Tagen wie alle Top-Fahrer der Cross-Country-Fraktion den Event-Marathon aus zwei Weltcups, einer Weltmeisterschaft, der Europameisterschaft und der Deutschen Meisterschaft binnen dreieinhalb Wochen bewältigen. „Wie die Marathon-DM in die Vorbereitung hineingepasst hat, werden wir dann sehen“, so die U23-Fahrerin, deren ältere Schwester Antonia Fünfte wurde. „Ich hatte jetzt nicht speziell auf eine Renndauer von über drei Stunden hin trainiert. Die Distanz ist echt ungewöhnlich für mich. Mein Fokus lag ausschließlich auf Cross-Country.“
Wer kennt Laura Philipp?
Noch ungewöhnlicher war das Terrain und das Sportgerät, ja die ganze Sportart überhaupt für die drittplatzierte Laura Philipp vom lokalen Verein RSV Heidelberg. Denn ihre bisherigen Berührungspunkte mit Mountainbike-Wettkämpfen beschränkten sich auf ein paar Cross-Triathlons und X-Terra-Veranstaltungen. Die Heidelbergerin ist eine der besten deutschen Triathletinnen, die 2018 die damals schnellste deutsche Zeit für einen Ironman aufstellte und 2019 auf Hawaii den vierten Platz belegte. „Das war mein erstes reines Bike-Rennen“, gestand die 33-Jährige im Ziel, das sie nur 5:53 Minuten hinter der Deutschen Meisterin beendete. „Ich mag Mountainbiken sehr gerne, aber ich mache es superselten, weil die Verletzungsgefahr natürlich höher ist, wenn man nicht so viel Übung hat. Aber in Corona-Zeiten, wo es so wenige Rennen gibt, habe ich diese Chance gerne ergriffen, mich in einem ganz anderen Feld zu behaupten, vor allem, weil ich es ja fast ein Heimrennen für mich ist.“ Allerdings musste Philipp hart um ihre Bronzemedaille kämpfen. „Die Strecke war super, aber richtig hart für mich: Diese kurzen, harten Belastungen und dann wieder locker bergab ist halt etwas, was ich überhaupt nicht trainiere. Bei uns im Triathlon geht es halt um möglichst gleichmäßiges Pacing und keine Spitzen, weil man sonst nach dem Radfahren nicht mehr laufen kann. Dieses Gefühl, jetzt nicht laufen zu müssen, ist jetzt eigentlich gerade das komischste“, lachte sie, bevor sie dann doch noch zur Siegerehrung laufen musste, die sie sonst fast verpasst hätte.
Dohrn: Dreimal „Holz“ in Folge
Nur zwölf Sekunden hinter Philipp überquerte Steffi Dohrn (Centurion-Vaude) die Ziellinie in Hirschberg-Leukershausen. „Als glückliche Vierte“, wie sie betonte, auch wenn es für sie zum dritten Mal in Folge Holzmedaille war. „Ich bin sehr lange mit Laura zusammen gefahren. Auf den letzten paar Kilometern habe ich mich aber verzockt. Ich habe zu früh zu viel gewollt. Dann war ich mit der Konzentration nicht mehr voll da und habe mich in zwei Kurven verbremst, und Laura hat Oberwasser bekommen und ist mir davon gefahren. Laura ist verdient Dritte geworden“, zollte sie der Triathletin Respekt. „Und auch Nadine hat verdient gewonnen: sie hat von Anfang an so ein krasses Tempo vorgelegt.“ Für die Marathon-Spezialistin hatte die Strecke im Odenwald zu kurze Ansteige und zu wenige Trails. „Eine typische deutsche Marathonstrecke. Sie war keine optimale Strecke für die Marathon-Mädels, eher für die Cross-Country-Mädels.“ Die Anstiege waren „sehr kurz und knallig“, beschrieb Dohrn die Strecke durch die Weingärten, die Wälder und den Ort Leutershausen, um dann aber versöhnlich zu ergänzen: „Ich bin froh, dass überhaupt eine DM stattfinden konnte, dass man einen Veranstalter gefunden hat, der sich reingekniet hat und so einen Event auf die Beine gestellt hat.“
Schwarzer Tag für einige Favoritinnen
Für einige der Favoritinnen war der Sonntag beim Odenwald Bike Mararthon ein schwarzer Tag: Janine Schneider (German Technology Racing) hatte schon im Vorfeld an ihrer Form bei dem für sie ersten Rennen der Saison gezweifelt. Mit über einer halben Stunde Rückstand erreichte sie das Ziel: „Es gibt manchmal Rennen, da muss man einfach unten durch, damit es wieder besser wird, heute war so ein Tag“, beschrieb sie ihre Gefühle nach dem Rennen. Gar nicht ins Ziel kamen zwei andere Favoritinnen: weder Cross-Country-Meisterin Elisabeth Brandau (Radon EBE) noch Adelheid Morath (KS Trek) erreichten die Ziellinie und beendeten das Rennen vorzeitig.
Brandl mit Doppel-Platten
Wenige Kilometer vor dem Ziel gab auch Cross-Country-Meister Max Brandl (Lexware) auf, den viele als großen Favoriten für den Titel bei den Männern gesehen hatten. Doch ein gleichzeitiger Reifendefekt vorne und hinten beendete abrupt die Ambitionen des 23-jährigen Freiburgers: „Ich habe mich das ganze Rennen über sehr gut gefühlt, vor allem an den langen Anstiegen. Ich habe gemerkt, dass ich trotz Fully zu den besten Kletterern hier gehöre“, gab Brandl im Ziel zu Protokoll.
„Auf einmal hat es dann in der vorletzten Abfahrt vor dem Ziel ‚peng-peng‘ gemacht, ich hatte vorne und hinten einen Durchschlag und 100 m weiter waren dann beide Reifen platt.“ Verständlich, dass mit der Luft auch die Motivation entwich, der davoneilenden Gruppe zu folgen: bis ins Ziel war es nicht mehr weit und die Chance auf eine Toppplatzierung war ohnehin dahin. „Für den anstehenden Weltcup in gut einer Woche war es ohnehin vielleicht die bessere Vorbereitung, wenn ich den letzten Anstieg nicht mehr fahren musste“, blickte Brandl im Ziel schon wieder nach vorne.
Große Spitzengruppe bis fast zum Schluss zusammen
Bis zu seinem Ausscheiden waren vor allem er und Centurion-Vaude-Fahrer Ben Zwiehoff die Protagonisten des Rennens gewesen, die das Tempo in der rund zehnköpfigen Spitzengruppe konstant hoch hielten. Die Anstiege waren zu kurz, dass sich einzelne Fahrer hätten dauerhaft lösen können, und wenn sie es doch versuchten, wurden sie spätestens in der nächsten Abfahrt oder im Flachstück danach wieder gestellt. Und dann war da auch noch die taktische Komponente: in der Spitzengruppe waren vier Cross-Country-Fahrer von Lexware (Brandl, Schwarzbauer, List, Egger) vertreten, die alle um den Sieg mitfahren konnten. Ihnen gegenüber stand die dreiköpfige Phalanx vom Team Bulls (Schneller, Frey, Stiebjahn), alles ausgewiesene Marathon-Spezialisten, aber auch auf der olympischen Distanz mindestens passabel unterwegs. Und dann waren dann auch noch die Einzelfahrer: neben Zwiehoff Titelverteidiger Sascha Weber (Majola-Rocky Mountain), Julian Schelb (Stop&Go Marderabwehr) und Markus Kaufmann (Texpa-Simplon). „Man musste immer wachsam sein“, beschrieb Schelb seine Taktik: „Ich habe versucht, immer ganz vorne mit dabei zu sein. Die Fahrer von Lexware und Bulls konnten sich auch mal ein bisschen zurückfallen lassen, sie hatten ja immer jemand vorne mit dabei. Dass ich selbst immer vorne mit dabei war, hat viele Körner gekostet. Körner, die mir dann in der dritten Runde gefehlt haben.“ Schelb, Deutscher Meister 2018 und Vize 2019, musste sich 2020 mit dem achten Platz zufrieden geben, nicht mal drei Minuten hinter dem Sieger.
Zwiehoff verliert Flasche
In einer ähnlichen Situation befand sich Ben Zwiehoff, auch er musste als Einzelkämpfer gegen die Teams standhalten, und das obwohl er erst seit gut einer Woche wieder trainieren konnte. Zwiehoff hatte sich bei Swiss Epic am Knie verletzt und musste drei Wochen pausieren. „Dafür war ich eigentlich gut unterwegs“, bilanzierte er fast schon überrascht ob der eigenen Leistung. Doch das Unglück nahm in der zweiten Runde seinen Lauf: Zwiehoff verlor bei Temperaturen um die 27 Grad die Flasche: „Bei der Hitze ist das natürlich echt Schei..e! Ich habe es versucht, mit Gels auszugleichen.“ Der Kurs, der über drei Runden durch den Odenwald führte, bot den Fahrern natürlich die Möglichkeit, die Stärken und Schwächen der Konkurrenten zu analysieren und sich selbst Orientierungsmarken für Attacken zu setzen. Doch als dann David List (Lexware) kurz vor dem höchsten Punkt des letzten Berges attackierte, erwischte er Zwiehoff wortwörtlich auf dem falschen Fuß: wegen des Flaschenverlusts hatte er mit Krämpfen zu kämpfen. „In dem Moment konnte ich einfach nicht über meine Limit gehen, ich musste David und Simon [Schneller, Team Bulls] ziehen lassen.“ List nutzte seine Chance und „ließ es in der Abfahrt richtig laufen“, wie es Zwiehoff später beschrieb. Zwiehoff, mit dem sicherlich gut dotierten Vertrag für das Straßenteam Bora-hansgohe in der Tasche und durchaus bekannt für viel Pech in solchen Situationen, wollte sich „in der Abfahrt nicht abschießen.“ Am Ende musste er sich dann auch noch dem Einzelkämpfer Sascha Weber (4. „Ich wurde hinten raus immer stärker, für mich persönlich war das Rennen eine Runde zu kurz“) geschlagen geben und wurde Fünfter.
Zweikampf an der Spitze
Vorne entbrannte jedoch ein harter Kampf um das Meistertrikot: Simon Schneller hatte schon zu Beginn der letzten Runde versucht, eine Attacke zu forcieren, war aber kurze Zeit später wieder gestellt worden. „Am letzten Anstieg hieß es dann „All out für alle!“ Schneller kam dem jungen Lexware-Fahrer nicht hinterher und musste dann kurz vor dem Ziel auch noch dessen Teamkollegen Luca Schwarzbauer passieren lassen: „Ich [Schwarzbauer] wollte mit Überschall an ihm [Schneller] vorbei brettern, sodass er gar nicht erst die Chance hat, ans Hinterrad zu springen.“ Schwarzbauer gelang das Manöver und sicherte er sich fünf Sekunden hinter David List (2:46:55 h) die Silbermedaille, Schneller, seines Zeichens amtierender Deutscher U23-Meister XCO, musste sich weitere fünf Sekunden später mit der Bronzemedaille begnügen.
Der erst 20-jährige Sieger David List zeigte sich im Ziel überglücklich: „Dass ich in der Elite-Kategorie ganz vorne mitfahren kann, hatte ich schon gehofft. Und wenn alles perfekt laufen würde, könnte ‚es‘ klappen, Ich habe mit dem Podium geliebäugelt – dass ich jetzt Meister bin: genial!“
Cross-Country-Fahrer im Vorteil
„Auch wenn Ben viel von vorne gefahren ist und das Tempo richtig hochgehalten hat, bin ich nie abgefallen, ich war immer vorne mit dabei“, beschrieb List sichtlich stolz seine eigene Leistung. „Das Streckenprofil kam mir und meiner Statur [182 cm / 67 kg, Anm. der Red.] entgegen. Ich habe nichts gegen längere Anstiege, für mich als Cross-Country-Fahrer waren aber die kürzeren Anstiege auch kein Problem: Wir im Cross-Country müssen oftmals einen Tick mehr drüber gehen und können uns dann aber auch schneller wieder erholen, das hat hier einiges geholfen“, nannte der frischgebackene Marathon-Meister die Vorteile, die er aus den Wettkämpfen über die olympische Distanz mitbringt. Und zur Taktik sagte der Wirtschaftsinformatikstudent aus Freiburg: „Ich wusste: wenn ich als erster in die letzte Abfahrt gehe, habe ich Vorteile. Deswegen bin ich obenraus eine Attacke gefahren. Unten im Flachen hatte ich 30 m Vorsprung, da wusste ich: ‚Ich muss das jetzt durchziehen!‘“
List: Jüngster Marathon-Meister
David List ist damit mit Abstand der jüngste Titelträger in Deutschland seit Einführung des Marathons als DM-Disziplin 2004.